Die Initiative zur Bandgründung ergreift der nach wie vor amtierende Kreativchef Edward Ka-Spel Mitte Juni 1980 im Anschluss an seinen Besuch des Stonehenge Free Festivals. Der gebürtige Brite, bürgerlich Edward Sharp, ist damals wohnhaft an einer Londoner Hauptverkehrsader Richtung Ostküste. Lastkraftwagen, die im Fünfminutentakt vorbeibrettern, lassen das gesamte Gebäude erzittern wie bei einem Erdbeben. Das Populärmusikevent anlässlich der Sommersonnenwende am prähistorischen Steinkreis im südenglischen Wiltshire unweit von Amesbury beziehungsweise Salisbury dürfte eine willkommene Abwechslung gewesen sein und bringt obendrein die Begegnung mit einer Band, deren elektronisches Klangspektakel an die Kampfmaschinen der Marsianer in der Hörspielfassung von "The War Of The Worlds" erinnert. Der Name der Formation geriet in Vergessenheit, derart überwältigend jedoch der Eindruck, dass Edward Ka-Spel den Entschluss fasst, selbst Musiker zu werden, sich einen Synthesizer vom Typ Korg MS20 zulegt, dazu einen preiswerten Drumcomputer, einen kleinen Gitarrenverstärker sowie ein einfaches Mikrofon.
Weil hoffnungslos verliebt in eine Holländerin, Umzug am zweiten Weihnachtsfeiertag 1984 nach Amsterdam. Die Beziehung zerbricht im Handumdrehen unter reichlich Getöse. Ganz umsonst ist der Wohnsitzwechsel trotzdem nicht, es ergibt sich ein Schallplattenvertrag mit den soeben in Brüssel gegründeten Play It Again Sam Records. Die Albumveröffentlichungen der Folgejahre erscheinen ab sofort nicht mehr nur als Compactkassette, dem Subkulturmedium jener Tage, sondern jetzt auch auf Vinyl sowie CD und formulieren, was die Legendary Pink Dots ausmacht.
Mit "Black Zone", "Break Day" und den fünf Versionen des Titelsongs widmet sich "The Tower" komplett dem Phänomen, dass verblüffend breite Bevölkerungsschichten westlicher Demokratien Faschismus und Diktatur durchaus attraktiv finden; Auslöser war Großbritanniens Premierministerin Margarete Thatcher wegen ihres Wohlwollens gegenüber General Pinochet, der Chile kürzlich in einen Tyrannenstaat verwandelt hatte.
Schwerpunkt 1985 von "Asylum" sind Geisteskrankheiten, "I Am The Way, The Truth, The Light" handelt von einem, der sich für den einzig wahren Heilsbringer hält, "The Hill" von einem gemobbten Mitschüler, der zum Amokläufer wird, "So Gallantly Screaming" vom Niedergang des amerikanischen Traums; herausragende Persönlichkeiten wie Abraham Lincoln, Martin Luther King oder John F. Kennedy werden einfach umgebracht.
"Waiting For The Cloud" 1988 von "Any Day Now", verarbeitet die Nuklearkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl. "Hellsville" sowie "Just A Lifetime" 1990 von "The Crushed Velvet Apocalypse" scheinen inspiriert vom Endzeitkult Peoples Temple beziehungsweise beschreiben eine globale Umweltkatastrophe, der nahezu die gesamte Menschheit zum Opfer fällt; "The Death Of Jack The Ripper" geht dem Gedanken nach, was gewesen wäre, wenn Londoner Prostituierte sich gegen den berüchtigten Frauenmörder verbündet und sie ihn um die Ecke gebracht hätten. "Madame Guillotine" und "A Crack In Melancholy Time" 1994 von "Nine Lives To Wonder" wollen sagen, dass jede Revolution ihre Kinder frisst beziehungsweise Geschichte sich eben doch wiederholt. Geschrieben sicherlich unter dem Eindruck aktueller Ereignisse zum jeweiligen Entstehungszeitpunkt, behalten die meisten Songs ihre Gültigkeit bis heute.
Unbestritten die prophetischen Qualitäten der Legendary Pink Dots, abgemildert höchstens dadurch, dass der putzige Bandname in der Regel auf die Musik abfärbt. Furchterregend, von verstörender Düsternis, aber wunderschön, lautet eine gängige Beschreibung ihrer Songs. Manchmal spricht Edward Ka-Spel sogar wörtlich aus, dass es Hoffnung gibt. "Belladonna" 1991 von "The Maria Dimension", einem der gelungensten Alben der Legendary Pink Dots überhaupt, lässt zwar noch eine junge Frau die Welt durch ihre hübschen blauen Augen bloß Grau in Grau sehen und dem Protagonisten aus "Pennies For Heaven" wohl in den Selbstmord folgen. Aber "A Velvet Resurrection" 1995 von "From Here You'll Watch The World Go" ist in seiner Songtextaussage eindeutig. "I want to believe in the nobility of the human spirit/I want to believe that mankind is essentially good and that the horror I see and the horrors I hear about are simply the last crisis of a dying spectre that has haunted our fragile globe for just too long", heißt es unter anderem. Beherrschen The Legendary Pink Dots etwa das Kunststück, Nostradamus zum Lächeln zu bringen? Durchaus offenbar!
Aktiv und ungemein produktiv geblieben ist die Band auch danach. Wie viele Alben in den viereinhalb Jahrzehnten des Bestehens angefallen sind, weiß Edward Ka-Spel inzwischen selbst nicht mehr genau. Um die fünfzig müssen es allein von den Legendary Pink Dots sein. Daneben Kooperationen mit cEvin Key von Skinny Puppy als The Tear Garden oder mit Amanda Palmer von The Dresden, beziehungsweise Soloalben unter seinem Namen, Soloalben ehemaliger und aktueller Bandmitstreiter.
Und ans Aufhören ist längst nicht gedacht. Mit "The Museum Of Human Happiness" von 2022 entwerfen The Legendary Pink Dots die gespenstische Zukunftsvision, dass die Glücksmomente der Menschheit bald nur noch im Museum zu besichtigen sein werden, wenn sich die Welt weiter in dieselbe Richtung dreht wie seit geraumer Zeit. "So Lonely In Heaven" vom Januar 2025 thematisiert die sozialen Medien, die für überwältigend viele Nutzer den Himmel verkörpern und doch eher Einsamkeit, Isolation und Dummheit hervorbringen. Klassifiziert wahlweise als Gothic, Industrial, Elektronik oder Progressive Rock, besetzen The Legendary Pink Dots eine Stilschublade für sich, mit einem Sound identifizierbar meilenweit gegen den Wind.
Bernd Gürtler/TM
The Legendary Pink Dots
"So Lonely In Heaven"
(Metropolis; 17.1.25)
The Legendary Pink Dots im Netz
Website | Facebook | Twitter | YouTube | Spotify | Deezer | Apple | Bandcamp