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Der Intensität des Moments verschrieben: Der Dresdner Jazzfotograf Matthias Creutziger

Über Musik schreiben sei wie Architektur tanzen, heißt es. Musik fotografieren? Galt als ebensolche Unmöglichkeit, bis Fotografen wie Matthias Creutziger das Gegenteil beweisen konnten. Der gebürtige Erzgebirgler, damals im Hauptberuf Bauingenieur und in seiner Freizeit Schlagzeuger verschiedener Amateurrockformationen, schreibt das erste Mal 1976 in der Dresdner Tageszeitung Die Union über Jazz. Unzufrieden mit dem Fotomaterial, das Fotografen zuliefern, ergreift er drei Jahre später selbst die Initiative. Der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt.

Zum Schlüsselerlebnis wird der Auftritt einer Triobesetzung aus Charlie Mariano, Trilok Gurtu und Toto Blanke im Barkhausen-Bau der TU Dresden. "Der Protagonist des Abends war natürlich Charlie Mariano, er improvisierte über John Coltranes 'Naima' wie ich es nie zuvor gehört hatte. Ein Fotograf war vor Ort. Aber was brachte er mir? Ein Foto von Toto Blanke. Ich fotografierte zu der Zeit auch schon, traute mich aber nicht, eigene Fotos zu verwenden. Ich dachte, ich bin zum Schreiben da, nicht zum Fotografieren, merkte aber, dass mein Foto von Charlie Mariano den Charakter der Musik viel besser einfängt als das von Toto Blanke, der in dieser Konstellation eher Nebensache war."

Nicht nur, dass Matthias Creutziger sich auf die Musik einlässt und ihr Wesen durch seine Kameralinse einfängt. Seine Hauptinspiration entspringt der Musik, die improvisiert ist, besonders wenn Schlagzeuger Günter Baby Sommer loslegt. "Ohne die Improvisationsmusik hätte ich nie zur Kamera gegriffen, weil die Intensität des Moments dort am stärksten ausgeprägt ist. Sicher, die Musiker nutzen Standards als Ausgangsbasis, treffen untereinander Absprachen über die Abläufe. Trotzdem ist die Musik ein aufeinander reagieren und der Versuch, eine Idee, die gemeinsam angegangen wird, voranzubringen, ohne dass die Beteiligten wissen, was passieren wird. Die kollektive Teilhabe am kreativen Prozess fasziniert mich, und Günter Baby Sommer ist sowieso ein Ereignis, schon wegen seiner kreativ modifizierten Schlaginstrumente."

Nicht lange und überregionale Zeitschriften wie Melodie & Rhythmus oder Das Magazin klopften an, der VEB Deutsche Schallplatte gab Schallplattencover in Auftrag, Matthias Creutziger wird die Herausgeberschaft des DDR-Jazzkalenders übertragen. Es ging ihm gut, sagt er selbst und stellt trotzdem 1988 einen Ausreiseantrag. "Nachdem mein Bruder ausgereist war, wurde ich mit immer schärferen Restriktionen belegt. Ich durfte nicht mehr zur Jazz Jamboree nach Warschau, wenn ich zum Wandern in die Tschechoslowakei fuhr, wurde ich an der Grenze jedes Mal eine Stunde lang festgehalten, durchsucht und befragt. Ich musste ständig bei Behördenstellen antanzen. Eine Einberufung als Reservist der NVA drohte und ich verweigerte inzwischen den Dienst an der Waffe, darauf standen acht Monate Gefängnis. Meine Frau und ich sagten, dass wir selbst damit vielleicht zurechtkommen könnten. Aber was wird aus unseren beiden Kindern?"

Matthias Creutziger zieht mit seiner Familie ins niedersächsische Hannover, von dort weiter nach Rheinland-Pfalz, schreibt für Stadtmagazine wie den Meier über Jazz, veranstaltet Jazzkonzerte und fotografiert für das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, die Schwetzinger Festspiele, das Theater der Stadt Heidelberg oder das Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen. 2003 schließlich die Wohnsitzverlegung zurück nach Dresden, Semper Oper und Sächsische Staatskapelle wollten ihn diesmal als ständigen Fotografen.

Anfang April 2020 erkrankt Matthias Creutziger an Corona, fünf Wochen liegt er im Koma. Einer seiner ersten Gedanken, als er ins Leben zurückkehrt? "Was wird, wenn ich mal nicht mehr bin, aus den tausenden von großformatigen Abzügen, den tausenden kleinformatigen Abzügen, den zehntausenden Negativen, den hunderttausenden von Datensätzen, die teils Kulturgeschichte, teils einen gewissen künstlerischen Wert darstellen? Das meinen Kindern, meinen Enkeln zu vermachen, wäre eigentlich eine Zumutung." Kurzentschlossen macht er der Deutschen Fotothek bei der SLUB Dresden den Vorschlag sein fotografisches Werk als Vorlass zu übergeben. Dort rennt er offene Türen ein.

Die meisten Motive sind verknüpft mit zutiefst persönlichen Erinnerungen. Siehe das berühmte, mit dem ersten Preis der Gesellschaft für Fotografie geehrte "Noch sieben Schritte bis zum Universum: Der Jazzpianist Michel Petrucciani", oder Fotografien von Auftritten von Ray Charles und Miles Davis in Warschau. Oder von Colin Davis, dem britischen Dirigenten, "wie er mir die Zunge rausstreckt, er hat mir das Bild später sogar signiert." Matthias Creutziger wurde nichts geschenkt und konnte doch sehr viel erreichen, immer mit Cannonball Adderleys "Mercy, Mercy, Mercy" als Leitmotiv. "Das Stück ist ein Hymnus, es verspricht etwas, nur um es zurückzunehmen, verspricht wieder etwas, um es erneut zurückzunehmen. Die perfekte Metapher, dass der Weg das Ziel ist."
Bernd Gürtler SAX 8/23
 

Foto: Ruthild Creutziger
Foto: Matthias Creutziger
Foto: Matthias Creutziger
Foto: Matthias Creutziger

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