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Mehr Free Jazz wagen: Günter Baby Sommer ist achtzig Jahre alt geworden

Sein Wohndomizil ist ein ehemaliges Ausflugslokal oberhalb der Radebeuler Weinberge. Unten im Elbtal die Wirkungsstätten seiner Kindheit und Jugend vor den Toren Dresdens, gleichzeitig gewährt die Örtlichkeit einen weiten Rundblick in die Ferne, dorthin, wohin ihn sein überragendes Schlagzeugspiel tragen sollte. Wobei es Schlagzeugmaestro Günter Baby Sommer nie beim reinen Musikmachen belässt. Ob der von ihm maßgeblich mitentwickelte und mitgeprägte Free Jazz ein brauchbares Gesellschaftsmodell abgeben kann? Die Frage stellt sich im Verlauf des Interviewtermins zwangsläufig.

Ist dir dein achtzigster Geburtstag, sind dir Geburtstage generell eine willkommene Gelegenheit, um Bilanz zu ziehen und sich vielleicht selbst auf die Schulter zu klopfen in Anbetracht des Erreichten? Oder bist du jemand, der immer und ausschließlich nach vorn schaut?
Das hat sich geändert. Bis zu meinem Siebzigsten, auch noch beim Fünfundsiebzigsten, mussten mich andere an meinen Geburtstag erinnern. Inzwischen nutze ich den Anlass und überlege, was ich in der mir verbleibenden Zeit noch schaffe.

An Beschäftigung jedenfalls scheint kein Mangel. Deine Website nennt knapp zwei Dutzend Besetzungsvarianten, mit denen du bei Bedarf Auftritte bestreiten könntest. Weitere Personalzusammensetzungen sind sicherlich problemlos abrufbar.
Es bieten sich derart viele Möglichkeiten, dass ich mir das wirklich einteilen muss in die Baby Sommer Greek Connection, die Baby Sommer French Connection, die Baby Sommer Italian Connection. Der Rest ist ausgefüllt mit Projekten, die ich nicht loslassen kann beziehungsweise solchen, die sich spontan ergeben. Musikinstrumente baue ich auch immer noch selbst.

Das Selbstbauen der Musikinstrumente war zumindest teilweise der Mangelwirtschaft der DDR geschuldet, weil, es gab ja nix.
Kann man so sagen. Die Schlagzeugsets der Firma Trowa aus Weißenfels reichten von der Qualität her vielleicht für den Export in die damalige Sowjetunion, nicht aber einem Klangforscher wie mir. Das war ein regelrechter Bruch, als ich aufhörte konventionell Schlagzeug zu spielen und mein Instrument in eine Klangwerkstatt verwandelte.

Wie hat dein Musikeralltag in der DDR ausgesehen?
Der sah so aus, dass ich viel Zeit in Telefonzellen oder mit dem Schreiben von Briefen und Postkarten verbrachte. Moderne Kommunikationsmittel wie heute gab es nicht, E-Mails, Mobiltelefone waren noch gar nicht erfunden. Wer einen Festnetztelefonanschluss besaß, galt als äußerst privilegiert.

War das Leben in der DDR so trist wie oft dargestellt und wie sich gerade wieder andeuten will?
Nein, überhaupt nicht! Es heißt, die DDR sei eine Nischengesellschaft gewesen. Das stimmt, aber in den Nischen war was los! Wir pflegten intensiven Umgang mit Schriftstellern, mit Malern, mit Schauspielern. Mein Bekanntenkreis war riesig und reichte bis weit in benachbarte Künste hinein. Manche sagen auch, unsere Zusammenkünfte sein konspirativ gewesen. Aber konspirativ war das nicht, es musste stets davon ausgegangen werden, dass sich Berichterstatter unter uns befanden. Das hielt bloß niemanden davon ab, sich frei über Kunst, Kultur und Politik auszutauschen.

Ein solcher Berichterstatter hätte dir beinahe dein Studium an der Dresdner Hochschule für Musik Carl Maria von Weber vermasselt. Anschließend bist du ins Visier der Staatssicherheit geraten. Was war passiert?
In der DDR begann jedes Studium mit einem Ernteeinsatz, die Studenten mussten auf Mecklenburger Kartoffelfeldern die Kartoffeln einsammeln, so auch 1962. Ich hatte mein Abitur abgelegt und wechselte direkt von der Erweiterten Oberschule an die Dresdner Musikhochschule, wo soeben die Abteilung Tanz- und Unterhaltungsmusik, kurz TUM, gegründet worden war. Dorthin wollte ich, weil ich wusste, dort sind Dozenten, die sich dem Jazz verbunden fühlen, wenn auch einer anderen Art als mich begeisterte. Aber das sind ausgezeichnete Musiker gewesen, nämlich die Mitglieder von Günter Hörigs Dresdner Tanzsinfonikern. Bei der Kartoffelernte wurde mir eine Ackerfurche zusammen mit einem Abgesandten der Kasernierten Volkpolizei zugeteilt. Ich verfolgte damals im Radio jede Nacht Willis Conover mit seiner Sendung Jazz Hour bei Voice Of America. Ich war vollkommen Richtung des westlichen Kulturkreises orientiert und nicht unbedingt der russischen Kultur zugetan, mit der Russifizierung der DDR hatte ich meine Schwierigkeiten. Das tat ich beim Kartoffelnsammeln kund, im jugendlichen Eifer bestimmt in markigen Worten. Sechs Wochen nach Studienbeginn wurde ich vor einen Ausschuss zitiert, dem Offiziere der Sowjetarmee angehörten. Ich wurde ermahnt, mir reiflich zu überlegen, ob ich mit meiner Einstellung des Studiums an einer sozialistischen Bildungseinrichtung überhaupt würdig bin. Es war also klar, ich musste mir Asche aufs Haupt streuen. Als ich den Raum der Anhörung verließ, warteten schon zwei Herren, die mich ansprachen und sagten, wenn ich bereit wäre mit ihnen zu kooperieren, könnten sie mir helfen, die Exmatrikulation abzuwenden. Ich dachte an mein Studium und ging auf ihr Angebot ein. Danach begann ein fast zweijähriger Hase-und Igel-Wettlauf, der darin bestand, dass ich an der Pforte der Musikhochschule Nachrichten vorfand, wann und wo ich mich zum Rapport einzufinden hätte. Bei zwei von zehn solcher Nachrichten bin ich hingegangen, achtmal warteten sie vergebens. Das konnte ich im Abschlussbericht des für mich zuständigen Führungsoffiziers nachlesen, es wurde eingesehen, dass ich von keinerlei Nutzen bin. Man müsse mich erst ideologisch umerziehen, um mich als GI, als geheimen Informanten, so lautete die Bezeichnung damals, einsetzen zu können, hieß es. Nach der Wende hatte ich Akteneinsicht und war erleichtert, dass das genauso vermerkt war. Die sind wegen meiner Unzuverlässigkeit verärgert und sicherlich frustriert gewesen, weil ich parallel zum Musikstudium bereits an Schallplatteneinspielungen von Klaus Lenz oder Manfred Krug in Berlin beteiligt war. Bestimmt versprach man sich von mir einiges an kompromittierenden Indiskretionen.

Ist die Begegnung mit der Staatssicherheit beängstigend gewesen?
Eigentlich nicht. Ich hatte mit fünfzehn Jahren die philosophischen Schriften von Søren Kierkegaard gelesen, hatte Schopenhauer gelesen, mein allererstes Buch mit dreizehn Jahren war William Faulkners "Griff in den Staub". Ich glaubte, dass ich denen überlegen war, wegen meines viel breiteren Blicks auf die Welt.

Als im Wendeherbst 1989 die Mauer fiel, war der Westen nichts Neues für dich. Du durftest in Vorwendezeiten im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, wie es offiziell hieß, auftreten. Und bist jedes Mal zurückgekehrt, warum? Nicht eben wenige deiner DDR-Musikerkollegen entschieden anders.
Ich war verheiratet und natürlich, ich hätte meine Frau nachholen können. Aber ein gewichtiger Beweggrund war auch, dass in Radebeul die Bäume meiner Kindheit standen, auf die ich geklettert war. Ich bin ein heimatverbundener Mensch. Zugegeben, bei so mancher Rückreise ging ich kurz vom Gaspedal, wenn das Niemandsland des Grenzstreifens näher kam und überlegte, ob ich besser umkehren und im Westen bleiben sollte. Aber dann fuhr ich weiter. Ich wusste, außer meiner Familie rechnen noch andere Menschen mit mir. Für mich als leidenschaftlichen Leser der Romane von Karl May, ist auch eine gewisse Abenteuerlust dabei gewesen, weil, mein Auto war jedes Mal vollgestopft mit verbotenen Büchern, mit Zeitschriften wie Spiegel oder Stern. Die DDR-Grenzkontrollen sind heikel gewesen, aber nach den ersten drei, vier Mal war ich ein versierter Schmuggler geworden und zwar in beiderlei Richtung. Wenn ich losfuhr, hatte ich Listen mit Begehrlichkeiten von Freunden und Bekannten dabei und meist gaben sie mir eine Münzsammlung oder Briefmarkensammlung mit, die ich im Westen veräußerte, um das gewünschte einkaufen zu können. Bevor ich abends die Konzerte bestritt, hatte ich tagsüber reichlich zu tun. Auf der Rückreise diente jeder Hohlraum, den mein Automobil, meine Instrumente hergaben als Versteck für Druckerzeugnisse, Schallplatten, Mikrofone, komplette Verstärkeranlagen, ein Farbfernseher ließ sich in meiner großen Basstrommel unterbringen. Auch westliche Genusswaren hatte ich dabei, und nach jeder Heimkehr veranstalteten wir rauschende Feste, wo französischer Käse oder italienische Weine verkostet wurden. Was ich mitbrachte, war nie für mich allein, sondern das gab ich weiter und verteilte es.

Hat sich nach der Wende deine Lebensweise verändert? Der schiere Konsumwahnsinn, der zu DDR-Zeiten schmerzlich vermisst wurde, den gab es jetzt frei Haus.
Meine Lebensweise hat sich nicht verändert, meine musikalische Betätigung schon eher. Bis zum Mauerfall bin ich die achtziger Jahre nahezu überall in Westeuropa und auch Japan aufgetreten. Wenn in Frankreich oder Italien ein Kulturzentrum der DDR eröffnete und ein musikalischer Beitrag benötigt wurde, schickte das Ministerium für Kultur unter anderem mich. Meine Trommeln brachten den wunderbaren Vorteil mit sich, dass ich ohne Texte auskam, im nonverbalen Bereich agierte. Das hat mir geholfen, das half unserer Band, dem Zentralquartett. Wir konnten nach Herzenslust mit Posaune, Saxophon, Klavier und Schlagwerk am Stuhl der SED sägen, gegen den Beton der Mauer hämmern, weil wir geschützt gewesen sind durch die Abstraktion. Wir gerieten nicht in den Fokus der Kulturwächter wie ein Wolf Biermann, der mit seinen kritischen Songtexten den Rauswurf aus der DDR regelrecht provozierte. Wir sind rein instrumental unterwegs gewesen und es existierte kein Gesetz, das besagte, der Ton F ist sozialistisch und Fis kapitalistisch. Wir konnten auf dem Fis herumhacken, es bestand keinerlei Gefahr. Allenfalls eine Formdiskussion drohte, aber dazu war keiner der Genossen imstande. Genau diesem Umstand ist geschuldet, dass ich den Konsumrummel des Westens bereits vor der Wende kennenlernen durfte. Mit Bedauern beobachtete ich, wie Ostdeutsche ihr erstes Westgeld für nutzlosen Wohlstandskram ausgaben. Oder Gebrauchtwagen, mein Gott, den Händlern wurden noch die letzten Schrottmühlen aus den Händen gerissen! Verstehen konnte ich das nur zu gut, die eigentliche Enttäuschung aber war der Kultursektor.

Inwiefern?
Weil plötzlich keinen Wert mehr zu besitzen schien, was kulturell in Ostdeutschland passierte. Die Theater blieben leer, die Kinos blieben leer, die Konzerthallen blieben leer. Die Leute, und auch das verständlich, fuhren nach Kassel, München, Frankfurt/Main, Hamburg. Vier, fünf Jahre später renkte sich das wieder ein. Aber zehn Tage nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 hatte ich das letzte Jazzorchester der DDR zu leiten. Der Auftritt fand in der Stadthalle von Weimar statt. Der Rundfunk zeichnete das Konzert auf, Karl Heinz Drechsel war für die Moderation zuständig. Unmittelbar vor der Halle hörten wir die Autos fahren. Erst dachten wir wunderbar, dass so viele Leute kommen. Aber nein, die Leute knatterten mit ihren Trabbis und Wartburgs Stoßstange an Stoßstange Richtung Westdeutschland. Wir saßen in der riesigen Stadthalle mit schätzungsweise fünfundzwanzig Besuchern, während das letzte Jazzorchester der DDR einen Abgesang auf die DDR intonierte. Ich hatte das Orchester mit Schallmaien ausgestattet, nach dem Vorbild des Liberation Orchestra von Carla Bley, Michael Mantler und Charlie Haden. Gespielt wurden linke Lieder der Arbeiterbewegung, "Wenn wir schreiten Seit an Seit" oder "Das Lied vom kleinen Trompeter", und über den Schallmaien konnte sich ein Solist im Sinne des Free Jazz frei entfalten. Den Rundfunkmitschnitt besitze ich und werde das Material hoffentlich irgendwann noch veröffentlichen können.

Kannst du verstehen, dass Ostdeutsche sich die DDR zurückwünschen?
Nein, überhaupt nicht!

Und dass Ostdeutsche mit der Demokratie hadern?
Auch das ist mir ein Rätsel.

Wenn du ostdeutschen Zweiflern beschreiben solltest, was lebendige Demokratie ausmacht, was würdest du sagen?
Demokratie lebt von ihrer Diskursfähigkeit, nicht ein Einzelner hat das ultimative Sagen. Aber genau darauf läuft es hinaus, wenn die AfD Wahlen gewinnt.

Auf die Musik übertragen, was wäre das Gegenstück zur Demokratie? Der Free Jazz, wo es auch keinen Einzelnen gibt, der sagt, wo es ultimativ langzugehen hat, sondern ein Diskurs stattfindet, zwischen gleichberechtigten Bandmitgliedern und manchmal ein riesiges Durcheinander, manchmal ein wunderbares, gemeinsames Ganzes entsteht??
Vom Prinzip ist Jazz eine Kollektivmusik, richtig.

Wäre es angeraten, im Sinne von Willy Brandt mehr Free Jazz zu wagen, sich Demokratie als Free Jazz vorzustellen, wenn im Durcheinander gesellschaftlicher Diskurse die Orientierung verloren geht?
Im Free Jazz herrschen gewissermaßen freie Rede und Gegenrede, die Musik lebt vom Dialog. Jeder, der sich einbringen will, kann sich einbringen. Als oberste Regel gilt, zuhören, zuhören, zuhören, um mit seinem Beitrag das gemeinsame Ganze sinnvoll zu befördern. Ein zutiefst demokratisches Prinzip. Also mehr Free Jazz wagen, unbedingt!

Du bist 1995 an die Dresdner Musikhochschule zurückgekehrt, diesmal als Professor für Schlagzeug und Perkussion. Einer deiner Studenten war Demian Kappenstein. Erinnerst du dich an ihn?
Aber sicher! Was er mit Masaa macht, gefällt mir richtig gut. Ätna geht mir zu sehr in Richtung Pop.

Eine deiner jüngsten Albumeinspielungen heißt "Karawane" und entstand mit The Lucaciu 3, einem rumänischstämmigen, im sächsischen Plauen beheimateten Brüdergespann; Saxophonist Antonio Lucaciu war dir aus einem deiner Hochschulkurse bekannt. Die Musik der gemeinsamen Quartettformation wirkt geradliniger, führt weg vom Free Jazz und verlässt den nonverbalen Raum. Das Titelstück enthält einen Text von Hugo Ball, den du selbst vorträgst.
Hugo Ball war ein berühmter Dadaist und Dada eine Reaktion auf den Irrsinn des Ersten Weltkriegs. Wir fanden, das passt nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Bernd Gürtler SAX 8/23


Günter Baby Sommer im Netz
Website | Intakt Records | FMP Records 


Konzerte
22.9.23 “Unser Baby wird 80“ in der Semperoper, Semper Zwei, mit Nora Gomringer, “String Trio (Gunda Gottschalk violine, Xu Fengxia guzengh, Fabrizio Puglisi p) “Baby Sommer's Brother & Sisterhood“

23.9.23 “Unser Baby wird 80“ in der Semperoper, Semper Zwei, mit Wolf Biermann, Clarinet Trio (Gianluigi Trovesi bcl, Julius Gawlik cl, Joris Roelofs bcl), Günter Baby Sommer& Die Brüder Lucaciu

24.9.23 “Unser Baby wird 80“, Jazzclub Tonne 16:00 Panel Discussion zum Thema “Eine Positionsbestimmung des Jazz in der alten DDR und der heutigen BRD“ , “All Star Concert“ mit Till Brönner (tp), Daniel Erdmann (ts), Nils Wogram (tb), Robert Lucaciu (b), GBS (dr)

29.09.23 Prag, Kastan (Duo mit Ulrich Gumpert)
01.10.23 Dresden, Kino Ost, Filmpremiere “Von der Elbe an den Niederrhein“
06.10.23 Schloß Scharfenberg b.Meißen (Duo mit Antonio Lucaciu)
09.-13.10.23 Ferrara, Workshop und Konzert
21.10.23 Schwerin “Laut & Leise Verboten“ Literatur und Jazz mit Annett Renneberg und Florian Lukas
27.10.23 Erfurt Jazzclub (Duo mit Antonio Lucaciu)
29.10.23 Husum (Duo mit Antonio Lucaciu)
 

Foto: Matthias Creutziger
Foto: Matthias Creutziger
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Foto: Intakt

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