Fünfundzwanzig Jahre Hattler sind keine Selbstverständlichkeit. Manches Soloprojekt übersteht kaum die ersten zwei, drei Konzertauftritte.
Absolut, ich bin selbst überrascht, weil die Idee war, meine beiden anderen Projekte, also Kraan und TabTwo, zusammenzuführen. Ich wollte die Ästhetik der elektronischen Einspielung beibehalten und gleichzeitig eine richtige Band. Mein ältester Sohn schlug vor, einen Schlagzeuger einzubinden. Ich war skeptisch, ich überlegte, welcher Schlagzeuger erfreut wäre, sein Schlagzeug einer fertigen Aufnahme im Nachhinein am Clicktrack entlang hinzuzufügen. Sebastian Studnitzky, der Trompeter, mit dem ich Hattler zu realisieren gedachte, kannte jemanden, der genau das zu seiner Spielweise erwählt hatte. Oli Rubow heißt der Mann, ein echter Vorreiter, heute bedient sich jede zweite Band der Methode. Nach vier Jahren sind Sebastian und die beiden Sängerinnen, die dabei gewesen sind, ausgeschieden, um eine eigene Band zu gründen. Ich fragte Oli, ob er nicht eine Sängerin empfehlen könnte. Er, aber gewiss doch, Fola Dada aus Stuttgart. Wir trafen uns zu dritt im Café in Stuttgart. Von Fola hatte ich noch nie gehört. Ich wusste nicht, wie sie singt, was sie singt und was sie sonst macht. Sie meinte nur, sie kenne sämtliche Stücke, sie hätte Hattler zigmal gehört und würde den Gesangspart gern übernehmen.
Das klingt nach fester Besetzung. Einschlägige Datenbanken erwecken eher den Eindruck, Hattler sei als offenes Projekt mit wechselnden Mitstreitern angelegt.
Im Studio ist jeder herzlich eingeladen, seinen Beitrag zu leisten. Auf der Konzertbühne spielen wir seit 2006 stabil mit Fola Dada, Oli Rubow und Torsten DeWinkel an Gesangsmikrofon, Schlagzeug beziehungsweise Gitarre sowie meiner Wenigkeit am Bass.
Für den Konzertbetrieb ist die feste Besetzung sicherlich von Vorteil.
Unbedingt! Üben müssen wir kaum, neue Stücke werden beim Soundcheck kurz geprobt. Meine Mitstreiter sind beneidenswert begabt, was das Merken und Erlernen angeht. Ich selbst bin langsam, schon immer. Die anderen können sich neue Stücke superschnell draufschaffen. Ungeheuer komfortabel ist das.
Wer sind die regelmäßigsten Gastmitstreiter im Studio?
Um die Beats zu entwickeln, sind das am Anfang hauptsächlich Programmierer gewesen. Uwe Jahnke von den Fehlfarben zum Beispiel. Oder Ingo Bischof, als er noch gelebt hat. Oder Tonio Neuhaus, inzwischen auch leider verstorben. Es gab einen Stamm von Programmierern, darunter auch Peter Musebrink von Deep Dive Corporation, der meist für fünf Tage vorbeikam und immer unfassbar originelle Beats mitbrachte. "Delhi News" ist eine typische Kooperation zwischen Peter Musebrink und mir. Irgendwann reichte es mir nicht mehr, nur Melodien oder Gesang zu den Beats und der meist etwas eindimensionalen Harmonik beizusteuern. Ich wollte weg von ambientartigen Klangteppichen und wieder hin zu Songstrukturen. Mit "Mountainbike" fing das an. Während eines Krankenhausaufenthalts entstand unter anderem "Teaser", mit einem lustigen, leicht sarkastischen Text. Das sind richtige Songs, nachdem ich festgestellt hatte, dass mir beim Komponieren zu programmierten Beats die Ideen ausgingen. Später änderte ich meine Arbeitsweise erneut. Ich begann, als Erstes meinen Bass aufzunehmen, und schickte die Files an Torsten DeWinkel und Fola Dada, damit sie eine Vorstellung entwickeln können, worauf ich hinauswill. Zumeist danach erst fügt Oli sein Schlagzeug hinzu. Das funktioniert in fast hundert Prozent der Fälle ausgezeichnet.
Welche Möglichkeiten bietet dir dein Soloprojekt Hattler im Unterschied zu Kraan?
Bei Hattler kann ich umsetzen, was sich bei Kraan schlecht umsetzen lässt. Songstrukturen kann ich bei Kraan schon machen, bloß kaum Songs, weil keiner singen will. Peter Wolbrandt kann singen, will aber lieber Gitarre spielen. Jan Fride Wolbrandt kann noch besser singen, will aber lieber Schlagzeug spielen. Ich würde gern singen, kann aber gar nicht singen und konzentriere mich von daher auf die Instrumentalparts. Dadurch entsteht ganz andere Musik. Bei Hattler habe ich freie Hand und wundere mich manchmal, dass Fola nie sagte, was das denn für ein abgedrehter Text ist oder sie diesen und jenen Stil nicht singen will. Das gab es noch nie. Dem, was ich anbringe, wird ein starkes Grundvertrauen entgegengebracht. Wir testen die Stücke auf der Bühne, funktioniert etwas nicht, fliegt es aus dem Programm. Aber es macht einen Riesenunterschied. Kraan sind sehr spezielle Individuen, die mehr ihrem Bauchgefühl folgen. Bei Hattler kommen die Songs von mir und werden von der Band gespielt. Wahrscheinlich ist das Projekt deshalb so langlebig, weil jeder versteht, was mir vorschwebt, und das noch viel besser umsetzt als von mir vorgeschlagen. Dadurch wird Hattler zu einem Projekt der Gleichberechtigten und wächst kontinuierlich.
Wie komponierst du deine Stücke, auf dem Bass?
Genau. Also Stücke für Kraan passieren meistens in meinem Kopf, die muss ich mühsam aufs Instrument übertragen. Oder ich jamme auf dem Bass und stelle fest, oh, das ist ein raffinierter Harmoniewechsel, da muss ich dranbleiben. Ich nehme das auf und schaue, ob ich das eine Woche später immer noch für gut befinde. Anders funktioniert das bei meiner Musik nicht. Ich orientiere mich nicht an Vorgaben, ich höre mir keine Alben von Taylor Swift oder den Rolling Stones an und denke, so muss ich das auch machen. Im Leben nicht! Ich finde es total albern, wenn jemand sagt, hör mal dort, so einen Beat haben wir jetzt auch. Ich denke dann immer, spiel dich doch selbst, du bist doch jemand. Du bist kein Copycat. Wenn ich an neuen Stücken arbeite, muss ich mich von einer Entwicklungsstufe zur nächsten hangeln. Manchmal dauert es Wochen, sogar Monate, bis sich etwas findet, das zusammenpasst. Im Fall von "Fine Days" brauchte es vierzig Jahre. Der A-Teil war uralt, es fand sich aber nie ein Refrain. Irgendwann dachte ich, Moment, das hier müsste doch passen, und siehe da, es klappte. Von aberhunderten Ideen bleiben wenige Diamanten, die zu funkeln anfangen, wenn ein Licht draufscheint.
Deine Songs für Hattler sind in der Regel mit schönen Melodien ausgestattet. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um reine Wohnfühlmusik. Aber oft geht es um etwas, oder?
Wenn ich Songtexte schreibe, soll das kein Blabla sein. Dann soll das etwas ausdrücken, und das tut es auch. Teilweise sind autobiographische Elemente dabei, noch öfter handelt es sich um Assoziationsbilder. Ich beginne mit einem Wort, einem Satz, und überlege, was sich anschließen könnte. Ich frage mich, ob das schon die Strophe ist oder der Refrain? Ob es eine fortlaufende Geschichte werden soll? Wobei fortlaufende Geschichten wie in "Not What You Think" selten sind. Hauptsächlich handelt es sich um Stimmungsbilder, so verklausuliert, dass sich das nicht unbedingt auf Anhieb erschließt. Es klingt gut, könnte aber ganz anders gemeint sein.
Zum Beispiel?
Es war lustig, neulich fragte jemand nach dem Konzert, was singt ihr da in "Teaser". Ich antwortete, der Text handelt von einer betrogenen Ehefrau, die ihrer jungen Rivalin souverän Bescheid sagt. Fola meinte, echt, darum geht es? Sie hatte das hundertfach gesungen, aber etwas ganz anderes vermutet. Wie in der bildenden Kunst, wo das Bild im Auge des Betrachters passiert, so sollten Songtexte sein. Plattheiten wie lehn dich auf, stürze den Staat, finde ich saupeinlich. Wir sind Künstler und keine Deppen. Das Publikum ist auch nicht blöd.
Wie wurde die Werkschaukopplung zusammengestellt? Über die Jahre ist einiges an Material angefallen.
Allerdings! Einige Stücke lagen auf der Hand. Bekannte, teils vielfach compilierte Sachen wie "So Low", "Dimitri" oder "Sunny Jay" sollten dabei sein, jedoch in bislang unveröffentlichten Konzerteinspielungen oder exotischen Abmischungen. "So Low" existierte in einer Pianoversion, die jetzt erst wiederentdeckt und liebevoll überarbeitet wurde. Mein Labelpartner Jürgen Schlachter fand in den Tiefen seiner Rechnerfestplatten "Scion" noch mit dem Gesang von Sandie Wollasch, einer der beiden Sängerinnen aus Anfangstagen. Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass es diese Fassung überhaupt gab. "Delhi News", "Mountainbike" und "Teaser" sind auch dabei. Es gibt mehrere neue Stücke, unter anderem den Titelsong zu "Happy Birthday Baby" sowie "Swipe". Dort geht es um eine junge Frau am Strand, die einem Typen zuschaut, den sie super findet, der aber überhaupt kein Auge für sie hat, weil er die ganze Zeit auf sein Smartphone starrt. Sie grübelt, was sie anstellen könnte, damit er ihr endlich seine Aufmerksamkeit schenkt. Soll sie warten, bis sein Akku leer ist? Eine Sache, von der ich nicht frei bin. Ich nehme auch viel zu oft das Smartphone zur Hand, um festzustellen, ob meine Socialmediaposts zur Kenntnis genommen werden. Solcher eitler Scheiß eben und durchaus ein Problem unserer Zeit, dass wir seltener zwischenmenschliche Kontakte pflegen, stattdessen nur noch virtuell unterwegs sind. Die Zusammenstellung von "Happy Birthday Baby" entspricht sehr meiner Gemütsverfassung im Moment. Traditionell schaue ich nach vorn und lasse die Vergangenheit Vergangenheit sein. Seit einigen Jahren überlege ich aber, was habe ich eigentlich geschafft? Dann sehe ich den Gesamtkatalog mit Hattler, mit Kraan, den anderen Projekten, und stelle fest, doch, ich habe ganz schön was geschafft. Vor allem wird mir klar, dass ich meine Lebenszeit selbstbestimmt in die Hand genommen habe.
Bernd Gürtler/TM
Hattler
"Happy Birthday Baby"
(36Music; 13.6.25)
Hattler im Netz
Website | Facebook | Instagram | Twitter | YouTube | Spotify | Deezer | Apple | Bandcamp
Konzerte
02.08.25 Dreieichenhain, Burgfestspiele
07.09.25 Böblingen, Sommer Am See
25.09.25 Glems, Hirsch
26.09.25 Schorndorf, Session 88
27.09.25 Ulm, Roxy
10.10.25 Esslingen, Dieselstrasse
11.10.25 Ellwangen, Ballroom
14.10.25 Wetzlar, Franzis
15.10.25 Bonn, Harmonie
29.10.25 Stuttgart, Theaterhaus
31.10.25 Ravensburg, Zehentscheuer
01.11.25 Knittlingen, Cellarium
07.11.25 Frankfurt/Main, Alte Seilerei
08.11.25 Leverkusen, Forum
09.11.25 Kassel, Theaterstübchen