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Der Homo Shoppicus und seine Socialmedianarretei: Mit "The Future Bites" erkundet Steven Wilson eine schöne neue Welt

Wer keine Coronainfektion erleiden muss, keine lieben Mitmenschen an das Virus verliert, sich nicht um seine Existenz gebracht sieht oder am Home Office verzweifelt, wird später vielleicht sagen, diese pandemiebedingten Lockdowns damals, die hatten auch ihr Gutes. Selten war man so sehr genötigt, die Dinge mit Abstand zu betrachten! Steven Wilson jedenfalls hat die Zeit genutzt. Sein Album "The Future Bites" (Caroline), angekündigt für Frühsommer 2020, verschob sich Monat um Monat und erschien dann Ende Januar 2021 in einer Neufassung, die seinem Ruf als King Of Progressive Rock lautstark widerspricht. Die Themenschwerpunkte sind dieselben geblieben und unbedingt eine Überlegung wert.

Ein Großteil des Publikums, das dich dem Progressive Rock zurechnet, dürfte maßlos enttäuscht sein von "The Future Bites". Das Album bewegt sich eher in Richtung eines kunstvollen Elektropop.
Ich fühlte mich noch nie einem bestimmten Genre verpflichtet. Ich begann in den frühen Neunzigern mit Elektropop, in einer Band namens No Man. Die Klangerzeugung damals rein elektronisch. Erst später wurde ich als Gitarrist ein Begriff. Meine erfolgreichsten Alben sind die, die sich als Classic Rock beschreiben lassen. Darauf wollte ich mich nicht beschränken, mein Publikum jetzt aber auch nicht bewusst auf dem falschen Fuß treffen. Es ist mir ein inneres Bedürfnis gewesen, mich neu zu erfinden, Neues auszuprobieren, mich weiterzuentwickeln. Andernfalls wird es langweilig für mich, ich mag nicht ein und dasselbe noch mal und noch mal wiederholen. Was die meisten meiner Alben dennoch miteinander verbindet, ist, dass sie einem Erzählfaden folgen, als Reise, als Film für die Ohren angelegt sind. Ich denke, wer sich "The Future Bites" anhört, wird es mögen.

Parallel zum mehrfach verschobenen Veröffentlichungstermin, hat das Album einen Überarbeitungsprozess durchlaufen. In letzter Minute wurde sogar der ursprüngliche Schlusssong "Anyone But Me" durch "Count Of Unease" ersetzt.
Die Sache mit der Coronapandemie ist, dass ich zum ersten Mal überhaupt Gelegenheit hatte zu reflektieren. Normalerweise wird ein Album fertiggestellt, der Plattenfirma übergeben, die es veröffentlicht, bevor ich einzuschätzen vermag, was ich eigentlich tue. Wenn die Songs geschrieben sind, Demos angefertigt sind, die Einspielung, die Abmischung, das Mastering erledigt ist, bin ich durch damit. Ich kann das dann nicht mehr hören! Diesmal konnte ich im Verlaufe des Sommers Abstand gewinnen, und mir fiel auf, dass der finale Song nicht aussagte, was ich aussagen wollte. "Anyone But Me" ist eine Up-Beat-Nummer gewesen, "Count Of Unease" eher spirituell, transzendent. Ich bin froh über meine Entscheidung.

Das Social Distancing als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung scheint in jeder Passage von "The Future Bites" atmosphärisch mitzuschwingen. Die Erzählung wirkt wie entkoppelt von Raum und Zeit.
Ja, gut möglich. Geschrieben wurden die Songs zwischen Ende 2017 und Ende 2018, vor der Pandemie, aber noch während der Amtszeit von Donald Trump. Damals sah ich einfach keine Zukunft, ich war ernsthaft besorgt um den Fortbestand der Menschheit. Der überbordende Hass, die Selbstverliebtheit, dieses gesamte trumpsche Gehabe, befeuert durch die sozialen Medien! Inzwischen bin ich wieder etwas optimistischer, das Pendel schwingt gerade in die entgegengesetzte Richtung. Aber während des Schreibens schwante mir nichts Gutes. Ich war fassungslos über meine Spezies, das Album spiegelt mein Entsetzen wider.

Die ersten beiden Songs geben im Grunde den Erzählrahmen vor. "Unself" und "Self" zeichnen ein vom Irrwitz der sozialen Medien geprägtes Gegenwartsbild.
Absolut! Wer früher eine Meinung hatte, der behielt sie für sich oder teilte sie mit der Familie, mit Freunden. Heute findet jeder Gedanke, jedes Vorurteil, jede Hassbotschaft millionenfach Verbreitung. Die Menschheit ist narzisstisch wie nie zuvor. Eine Schlüsselzeile aus "Self" lautet, "Self sees a billion stars/But still can only self regard". Soll heißen, wir richten unsere Blicke ins Universum, schauen mit gebündelter Intelligenz in den Kosmos, stellen existentielle Fragen. Lassen uns gleichzeitig aber von dem winzigen Bildschirm unserer Smartphones gefangen nehmen, weil wir begierig sind zu wissen, wie viele Follower unseren letzten Post liken, unser letztes Video anklicken. Schöne neue Welt! Andererseits nutze ich selbst soziale Medien. Ich muss, umso mehr wegen Corona, ich bin Musiker, kann derzeit nicht auf Tour gehen, nicht im Fernsehen auftreten, keine Signierstunden im Plattenladen geben. Das einzige, das mir bleibt, sind ironischerweise soziale Medien. Aber das heißt nicht, dass ich das eine der sozialen Medien nicht nutzen und nicht solche Aspekte kritisieren darf, die sich früher oder später auf uns auswirken werden.

Ein zweiter Themenschwerpunkt des Albums ist das, was sich unter dem Stichwort Konsumgesellschaft zusammenfassen lässt. Der Mensch nicht als mündiger Bürger, sondern Konsument im Kaufrausch. Woraus speist sich deine Inspiration? Aus der Unzahl kluger Bücher, die dazu verfasst wurden? Aus Fernsehdokumentationen? Aus deinem eigenen Verhalten?
Aus allen drei Quellen. Wahrscheinlich erschließt sich das nicht sofort, aber ich verurteile Konsum nicht grundsätzlich. Ich mag es einzukaufen. Du solltest meine Schallplattensammlung sehen, meine Bücherregale. Ich liebe Shoppen! Konsum ist etwas, das den Menschen Spaß bringt. Aber es gibt eine fiese Seite, speziell beim E-Commerce heute. Wir werden von Algorithmen manipuliert, uns werden Dinge aufgedrängt, die wir nicht brauchen, durch Menschen, die unserem Fußabdruck im Internet folgen und die gesammelten Daten gegen uns verwenden. Eine Anregung, einen Song dazu zu schreiben, war meine Begegnung vor einigen Jahren in einer Hotelbar mit jemandem, der im Auftrag von Amazon die Daten solcher Käufer auswertet, die Waren in ihren Einkaufskorb legen, den Kauf aber nicht abschließen. Ich dachte, was für ein seltsamer Job! Später ging mir auf, doch, das macht absolut Sinn! Ware, die im Warenkorb verbleibt, also nicht umgeschlagen wird, kostet Amazon Millionen von Dollar. Deshalb werden solche Daten abgegriffen und die Käufer mit Sonderangeboten bombardiert. Nur heute, Ware reduziert! Nur für dich, Special Offer, gültig diese Woche! Ich finde das besorgniserregend, weil das eine Praxis ist, die noch in den Kinderschuhen steckt. Was, wenn das perfektioniert wird? Es kursieren Geschichten, dass Leute am Smartphone im privaten Gespräch über bestimmte Kaufabsichten sprechen und am nächsten Tag entsprechende Werbung bei ihnen aufploppt. Das ist illegal, ich weiß. Aber die Sorge ist berechtigt.

Der Song, der die Shoppingkultur der Selfiegesellschaft genauer beleuchtet, ist "Personal Shopper". Dort erwähnt auch Deluxe-Boxsets berühmter Rockalben, mit denen Schallplattenfirmen seit einigen Jahren versuchen, bereits mehrfach verkaufte Musik erneut unters Volk zu bringen, anstatt junge Künstler aufzubauen. Als Remixingenieur bist du selbst ins Boxset-Business eingebunden.
Ich bin mir dessen bewusst. Es ist schwierig heutzutage, Interesse für Neues zu wecken, unendlich schwierig. Die Leute werden zugeschüttet mit Musik, und die Motivation älterer Jahrgänge ist vermutlich, dass sie sich dem zuwenden, was sie sowieso kennen und mögen. Plattenfirmen wissen das und finden Wege, dasselbe Album ein weiteres Mal zu verkaufen, an dieselben Leute, die bereits die originale Vinylausgabe erworben hatten, dann die erste CD-Edition, als nächstes die Remaster-CD und dann die Remaster-CD plus Bonusdisc mit unveröffentlichten Demos und Konzertmitschnitten. Als fünftes folgt ein opulentes Boxset, mit Begleitbuch, Reproduktionen von Konzerttickets, Plakaten und dergleichen. Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass ich zwar an solchen Projekten beteiligt, aber meist für den 5.1-Mix zuständig bin, wodurch vertraute Musik in neuer Form zu Gehör gebracht wird, was einen Mehrwert bietet. Manche Boxsets sind nichts, was ich als Fan wirklich besitzen möchte. Es gibt gute und schlechte Boxsets, ich will an den guten mitwirken.

Wurde "Personal Shopper" nach Depeche Modes "Personal Jesus" benannt? Immerhin ist von David Byrne, dem Chefdenker der Talking Heads, das Bonmot überliefert, die Shopping Center seien die Kathedralen von heute.
Ich mag Depeche Mode und ihren Song, aber mein Songtitel geht zurück auf den gleichnamigen Film des französischen Regisseurs Olivier Assayas aus dem Jahr 2016. Es geht dort nicht ums Shoppen, das ist eher ein Krimi und einer meiner Lieblingsfilme.

Als Gaststimme bei "Personal Shopper" konntest du Elton John gewinnen. Ist es schwer gewesen, ihn zu überreden?
Nein, überhaupt nicht, auch er ist ein Shopper vor dem Herrn und begeisterter Schallplattensammler.

Stimmt, erst neulich berichtete die britische Musikzeitschrift Record Collector von seiner Vinylsammelleidenschaft und einem Einkaufstrip zu Wax Trax Records, einem Plattenladen in Las Vegas.
Ja, jedenfalls fand es Elton John super, in "Personal Shopper" die Liste der Konsumgegenstände vorzulesen. Ist ein lustiger Song, kein erhobener Zeigefinger.
Bernd Gürtler SAX 3/21 


Steven Wilson
"The Future Bites"
(Caroline; 29.1.2021)


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Foto: Lasse Hoile
Foto: Andrew Hobbs
Foto: Lasse Hoile

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