Dein Soloalbum "To The Bone" lässt im Albumtitel darauf schließen, dass du dich auf das Wesentliche konzentrieren wolltest.
Richtig; alles was ich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren gemacht habe, klingt zweifelsfrei nach mir. Meine musikalische Persönlichkeit ist unverkennbar. Aber es trifft tatsächlich zu, der Ansatz bei diesem Album war ein anderer. Ich wollte an der Oberfläche zugänglicher sein, darunter jedoch die Feinheiten bei den Songtexten, bei den Arrangements und der Produktion beibehalten. Insofern unterscheidet sich "To The Bone" von den beiden Vorgängern, die eher konzeptionelle Rockalben gewesen sind.
Das neue Album ist auch mehr eine Kollektion von Songs?
Würde ich sagen, ja. Es ist kein durchgehender Erzählfaden angelegt wie 2015 bei "Hand. Cannot. Erase." oder 2013 bei "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)". Eine thematische Klammer gibt es dennoch. Hörer, die nicht mit Scheuklappen durch die Welt laufen, dürften Vertrautes entdecken. Es geht um Terrorismus, um religiösen Fundamentalismus, die Flüchtlingsproblematik, um die Wahrheit in Zeiten von Donald Trump und Fake News.
Mit anderen Worten, "To The Bone" liefert eine recht umfassende Beschreibung der Welt, wie sie im Moment besteht. Nicht unbedingt ein Anlass für überbordenden Optimismus!
Es fällt tatsächlich schwer, sich seine Zuversicht zu bewahren. Seit meinem vorletzten beziehungsweise vorvorletzten Album, hat sich rein gar nichts zum Besseren gewandelt. Ich empfinde es als verstörend, was Menschen einander antun. Nichts destotrotz beinhaltet das Album Facetten, von denen ich behaupten würde, dass sie die freudvollsten Momente meiner gesamten Karriere sind. Hätte ich das nicht eingebaut, wäre "To The Bone" eine wirklich deprimierende Scheibe geworden. Ich denke sowieso, dass ich gar nicht der Trauerkloß bin, für den mich alle immer halten. Einen Großteil dessen, was mich bedrückt, verarbeite ich in der Musik, so dass ich ein einigermaßen ausgeglichener Mensch bin. Ich erlebe viel Freude, bin überzeugt, dass die Schöpfung etwas Großartiges und der Planet Erde ein wunderbarer Ort ist. Aber vieles läuft falsch, und das wollte ich zusammenbringen.
"People Who Eat Darkness" handelt von einem religiösen Eiferer, der direkt nebenan wohnt und einen Terroranschlag vorbereitet. Beruht das auf wahren Begebenheiten? Hattest du selbst so jemanden zum Nachbarn?
Nicht dass ich wüsste, aber ich bin durchaus mehr auf der Hut. Im Zug, wenn ich zu meiner Plattenfirma nach London fahre. Wenn ich auf öffentlichen Plätzen unterwegs bin. Auf Tournee, beim Betreten der Bühne rumort im Hinterkopf neuerdings die Was-Wenn-Frage. Eigentlich ist das schon ein Teilsieg für die Terroristen. Dass sich Angst und Paranoia breitmachen, das haben sie geschafft. Besorgniserregend, wenn du mich fragst.
Was denkst du über den Brexit?
Mir ist noch kein Musiker begegnet, der den Brexit gutheißt. Wir in der Musikindustrie, in der Kreativwirtschaft generell, betrachten die Welt als internationale Gemeinschaft. Aber unser Blickwinkel ist naturgemäß ein anderer als der eines Stahlarbeiters aus Wales, der seinen Arbeitsplatz von Billigimporten aus China bedroht sieht. Ich hatte auch immer die Hoffnung, eine globale Internationalität könnte helfen, Vorurteile abzubauen und Ländergrenzen zu überwinden. Jetzt allerdings erleben wir eine Renaissance rückständiger Werte. Nicht bei der Mehrheit, aber es reicht schon, wenn die Hälfte der Bevölkerung glaubt, Großbritannien als isoliertes Inselreich sei erstrebenswert. Dass wir besser kommen, wenn wir in die angeblich guten alten fünfziger Jahre zurückkehren.
Nun könnte man sämtliche dieser Themen auch in kurzen Dreiminutensongs abhandeln, genügend Kollegen der angloamerikanischen Populärmusikgeschichte belegen das. Warum wählst du eine opulentere Form, die von den meisten Rezensenten und einem Großteil des Publikums als Progressive Rock wahrgenommen wird?
Ich liebe Soundtrackmusik, ich liebe Herausforderungen. Jeder hat etwas, worin er gut ist. Ich bin darin gut. Außerdem bin ich nicht der allergrößte Sänger. Wäre ich mit der Stimme eines Marvin Gaye oder Jeff Buckley gesegnet, könnte sich meine Begleitung auf eine Akustikgitarre beschränken. Leider ist das nicht der Fall, weshalb ich meinen Songs anders Geltung verschaffen muss. Ein weiterer Punkt ist, dass ich aufgewachsen bin mit "Songs From The Big Chair" von Tears For Fears, mit "Hounds Of Love" von Kate Bush, mit Peter Gabriels "So". Von dieser Art ambitionierter Popmusik der achtziger Jahre bin ich geprägt. Das ist in mein Erbgut eingeflossen.
Wie gehst du damit um, dass du dennoch als Progressiverocker giltst?
Bislang sind um die fünfzig Alben von mir erschienen, mit Ambient Music, mit Noise Rock, mit Extrem Metal, mit Pop. Aber die erfolgreichsten sind zweifellos die, die sich leicht dem Progressive Rock zuschreiben lassen. Also ich kann das einordnen.
Du bist mehrmals von Progressiverockern der klassischen Ära als Remixingenieur für Wiederveröffentlichungen engagiert worden…
Ja, aber auch von Tears For Fears, Roxy Music, von XTC …
Dennoch sind King Crimson, Jethro Tull oder Yes unter deinen Auftraggebern. Mich würde interessieren, was jeweils dein Beitrag als Remixingenieur gewesen ist.
Hauptsächlich geht es immer darum, einen 5.1. Surround Sound-Mix herzustellen. Als Zwischenschritt fällt in der Regel ein überarbeiteter Stereomix an, der die Musik oft transparenter klingen lässt.
Andy Partridge von XTC schrieb den Text zum Titelsong deines Albums "To The Bone". Wie kam es dazu?
Wir sind Freunde geworden, ich verehre seine XTC-Scheiben.
Bernd Gürtler SAX 07/18
Steven Wilson
"To The Bone"
(Caroline; 18.8.2017)
Steven Wilson im Netz
website | Facebook | Instagram | Twitter | YouTube