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Gar nicht aus der Zeit gefallen: Ian Anderson zum fünfzigsten Gründungsjubiläum von Jethro Tull

Bemüht man die endgültige Umbenennung der Band in Jethro Tull sowie den Veröffentlichungstermin des Debütalbums "This Was" als historische Eckdaten, steht 2018 fristgerecht das fünfzigste Gründungsjubiläum an. Gefeiert wird mit einer Jubiläumstour, flankiert von der 3 CD-Werkschau "50 For 50" (Parlophone). Die von Bandchef Ian Anderson handverlesene Materialauswahl gewährt Einsteigern als auch Gewohnheitshörern einen Überblick über das Gesamtschaffen der britischen Progressive-Rock-Formation, deren Songs so gar nicht aus der Zeit gefallen sind.

Mr. Anderson, fünfzig Jahre Jethro Tull, das ist eine bemerkenswert lange Zeit für eine Band, die im Titel des Debütalbums bereits ihr eigenes Ende verkündete. Was würden sie sagen, ist ihre Motivation gewesen, doch so lange dabei zu bleiben?
Teenager, selbst schon Kinder beginnen sich Gedanken zu machen, was ihnen die Zukunft bringen wird. Manche wollen Lokomotivführer werden, andere Feuerwehrmann oder Matrose, irgendetwas Romantisches. Ich wollte Maler werden, bildender Künstler. Als Teenager fand ich parallel zur Musik. Mit achtzehn bot sich die Chance, Berufsmusiker zu werden und ich entschied, für ein, zwei Jahre mein Bestes als Musiker zu geben, um zu schauen, wohin es mich führt. Damals stand keineswegs zur Debatte, ein Leben lang Musiker zu sein oder Hitschallplatten in den Charts zu platzieren. Ich wollte einfach Musik machen, und weil ich bereits als kleiner Junge Bluesschallplatten alter Männer hörte, nahm ich an, der Sinn eines Musikerlebens bestünde darin, eines Tages ein alter Mann zu sein, der immer noch mit Freuden musiziert und hoffentlich dafür bezahlt wird. Das war mein Antrieb. Ich kann froh sein, dass ich kein Formel-1-Pilot oder Tennischampion geworden bin. Meine aktive Karriere wäre längst beendet.

Sie erwähnen es selbst, Blues ist ein prägender Einfluss für sie gewesen. Erinnern sie sich an den Moment, als ihre eigene Musik eine Richtung einschlug, die heute als Progressive Rock bezeichnet wird?
Das kann ich genau sagen, im August beziehungsweise September 1968 war das. Wir hatten unser Debütalbum "This Was" fertiggestellt, das die, jedenfalls soweit es mich betrifft, damals in Großbritannien aufkommende Bluesbegeisterung auf etwas zynische Weise ausbeutet. Diese Undergroundströmung bot uns als Musikern die Möglichkeit, an Arbeit zu kommen. Ich persönlich jedoch wollte keinesfalls meine schwarzen Blueshelden dadurch kompromittieren, dass ich sie bis in alle Ewigkeit nachahme. Es war definitiv mein Wunsch, eigene Musik zu schreiben, die durchaus eklektisch sein konnte. Im Sommer 1968 entstanden bereits Songs für unser zweites Album "Stand Up". Als ich unserem Gitarristen Mick Abrahams die Stücke vorstellte, war er überhaupt nicht begeistert. Er wollte lieber Blues und R&B dichter am Original spielen. Somit trennten sich unsere Wege, und als "Stand Up" 1969 erschien, las ich in der britischen Musikpresse das erste Mal den Begriff Progressive Rock im Zusammenhang mit Jethro Tull. Ich dachte, großartig, ausgezeichnete Beschreibung. Genau das, was mir vorschwebt.

Wie wichtig war Klassikmusik bei der Orientierung hin zu komplexeren Formen?
Als Kind hörte ich jede Menge Klassik, auch Kirchenmusik. Wenn es gute Stücke sind, egal welcher Stilrichtung, prägen sie sich ein. Insofern sind klassische Elemente zwangsläufig in meine Musik eingeflossen. Beethoven wurde mein Favorit, besonders die Neunte Sinfonie. Allerdings nicht von den Berliner Philharmonikern dargeboten, dirigiert von Herbert von Karajan. Das erste Mal begegnete mir die Komposition im Soundtrack zu "Clockwork Orange", gespielt von Walter Carlos auf dem analogen Moog Synthesizer.

Warum entschieden sie sich für die Querflöte als Hauptinstrument? Weil sie auch von dem amerikanischen Jazzmusiker Roland Kirk beeinflusst gewesen sind?
Ich war nicht von Roland Kirk beeinflusst. Im Dezember 1967 brachte ich überhaupt das erste Mal einen Ton aus einer Querflöte. Im Februar 1968 besuchte ein alter Freund einen unserer Auftritte im Londoner Marquee-Klub. Er hatte soeben ein Album von Roland Kirk erworben und meinte, der macht was Ähnliches wie du. Ach wirklich, entgegnete ich, kann ich mir das mal anhören?! Ich besuchte ihn zu Hause in Nordlondon und wir hörten gemeinsam das Roland-Kirk-Album "I Talk With The Spirits". Ein Stück daraus behielt ich im Gedächtnis und übernahm es in mein Repertoire, "Serenade To A Cuckoo". Tatsächlich aber kam die Anregung zur Querflöte zu wechseln von Eric Clapton. Angefangen hatte ich mit elektrischer Gitarre, wegen Eric Clapton. Sehr schnell merkte ich, dass ich niemals so gut sein würde wie er. Ich dachte, vielleicht wäre es besser auf ein anderes Instrument umzusteigen. Im Sommer 1967 tauschte ich meine Fender Stratocaster gegen eine Selmer Gold Seal-Querflöte und ein Shure-Mikrofon ein. Und nachdem die anfängliche Krachphase überwunden war, orientierte sich mein Spiel an der Gitarre und elektrischen Gitarrenimprovisationen, nicht an Roland Kirk.

Mehrere Jethro Tull-Songs aus den frühen 70ern sind längst in die ewige Jukebox der angloamerikanischen Populärmusikgeschichte eingegangen. Ist es nicht aber mitunter erschreckend, wie zeitlos manche Aussage nach wie vor ist? "Aqualung" oder "Locomotive Breath" zum Beispiel, beide auf "50 For 50" enthalten. Das eine erzählt von Obdachlosigkeit, das andere von einem Alltag, der sich mehr und mehr beschleunigt wie eine führerlose Lokomotive unter Volldampf. Seit Jahren erleben wir genau das im Extrem.
Wenn man Songs schreibt, die von mehr handeln als bloß den eigenen Befindlichkeiten, wie es im Blues beispielsweise durch J.B. Lenoir geschah, der von den Rassenunruhen der 60er Jahre, von Vietnam erzählte – dann steht man mit beiden Beinen mitten im Leben. Schon in meiner Frühzeit als Maler betrachtete ich mich als Beobachter, der seine Eindrücke leicht mit persönlichen Betrachtungen anreichert. Ich denke, das ist die Quintessenz meines Songschreibens. Obdachlose sind kein nettes Thema, das sind sie 1971 nicht gewesen und heute vielleicht noch viel weniger. Die Ursachen der Obdachlosigkeit sind höchstens andere als damals. Bei "Locomotive Breath" ging es mir eigentlich um die Bevölkerungsexplosion auf der Erde, die Globalisierung, den führerlosen Zug des Kapitalismus, von dem wir nicht abspringen können. Das hat die Leute seinerzeit beschäftigt, mich jedenfalls hat das umgetrieben. Ähnlich wie einige Jahre später der Klimawandel in "Skating Away On The Thin Ice Of The New Day", unter Berücksichtigung der damaligen wissenschaftlichen These, dass wir einer neuen Eiszeit entgegensehen. Jahre später fand man heraus, dass das eine falsche Annahme war, dass uns eher eine Erderwärmung bevorsteht, als Folge von Luftverschmutzung, Treibhauseffekt und Co2-Anstieg. Manchmal mag sich der Ansatz des Schreibens im Lichte der Geschichte ändern, aber das Prinzip bleibt dasselbe. Ich bin froh, dass ich Songs zu schreiben in der Lage bin, die Beobachtungen enthalten. Man geht nicht wie ein Dokumentarfilmer oder ein politischer Journalist vor. Als Songautor nutzt man Nuancen, Metaphern, um mehr Grautöne als Schwarzweiß zu erzielen. Das macht Songs über lange Zeitdistanzen hinweg universell.

Der Bandname Jethro Tull war einem englischen Landwirtschaftspionier des 17. Jahrhunderts entlehnt. Sie selbst sind Landwirt geworden, wie fühlt sich das an?
Der Name Jethro Tull wurde uns von unserem damaligen Manager verpasst, nachdem er uns zuvor schon mehrmals umbenannt hatte. Ich wusste nicht, dass Jethro Tull eine historische Figur ist, im Geschichtsunterricht kam diese Episode nicht vor. Der Name ist etwas, mit dem wir gesegnet sind, von dem wir uns aber auch verfolgt fühlen. Jahre später wurde mir die zufällige Koinzidenz bewusst, als ich mit meiner Familie aufs Land zog und ich mich nach einiger Zeit für Landwirtschaft zu interessieren begann. Bis 2001 betrieben wir eine Forellenzucht, heute eigentlich nur noch Schafzucht und Forstwirtschaft. In erster Linie bin ich doch Musiker.
Bernd Gürtler Cybersax 6/18 


Jethro Tull
"50 For 50"
(Parlophone; 1.6.2018)


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Foto: Travis Latam
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