Aber falsch gedacht, der Zweihundertvierundvierzigseitenschmöker im großformatigen Hardcovereinband mit wattiertem Stoffbezug und Goldprägung, beinhaltet eine Sammlung von Interviewzitaten. Selbstredend wird Ian Anderson die Hauptstimme zugestanden, aber auch ehemalige und amtierende Mitstreiter kommen zu Wort, bis zurück in die Anfangstage im nordenglischen Blackpool mit John Evans, Jeffrey Hammond und Barrie Barlow. Kollektiv abgehandelt wird der Bandausstieg von Mick Abrahams, der im Blues verwurzelt bleiben wollte, während Ian Anderson komplexere Strukturen vorschwebten, wie sie kurz darauf unter die Stilkategorie Progressive Rock fielen. Ausgespart auch nicht der Weggang von Martin Barre. Nach vierundvierzigjähriger Mitgliedschaft, war ihm die Arbeit mit der Band schlicht zu sehr zur Routine geworden, erfahren wir. Dass er solo ein eigenes Jethro-Tull-Programm auf die Beine stellte, hatte Ian Andersons Segen.
Eingebettet in die chronologische Erzählung der Bandgeschichte mancherlei amüsante Anekdote wie die, dass am Rande eines Festivalauftritts Anfang der achtziger Jahre in der Schweiz ein, wie Ian Anderson sich ausdrückt, "schräger Vogel" mit einem Stapel Jethro-Tull-CDs Backstage bei ihm vorstellig wurde, um Autogramme bat und schwärmte, wie sehr er von Jethro Tull beeinflusst sei. Dieser Jemand war Joey Ramone von den New Yorker Ramones, einer jener Punkbands, die den Progressive Rock Mitte der siebziger Jahre angeblich auf ewig in die Wüste geschickt hätten.
Die wichtigste Interviewstelle findet sich in dem Kapitel über das Album, das "This Was", "Stand Up", "Benefit" und "Aqualung" nachfolgen sollte beziehungsweise "A Passion Play", "War Child", "Minstrel In The Gallery" sowie "Songs From The Wood" vorausging. Die Rede ist von "Thick As A Brick", ins Deutsche übersetzt der Albumtitel gleichbedeutend mit "Dumm wie Bohnenstroh". Nachdem "Aqualung" als Konzeptalbum durchging, gibt Ian Anderson zu Protokoll, "dachte ich mir, dass ich den Leuten die Mutter aller Konzeptalben vorsetzen sollte, indem ich unsere Kollegen, die überzogene und alberne Konzeptplatten veröffentlichten, durch den Kakao zog. Dazu zählten Yes und Genesis. Peter Gabriel als riesige Sonnenblume? Natürlich war das lächerlich. Doch 'Thick As A Brick' war nicht boshaft gemeint".
Eben dieser spezielle Humor ist es, der dem Progressive Rock eine anarchische Note verleiht und Jethro Tull mehr in eine Reihe mit Monty Python als mit jeder anderen Rocktradition stellt. Mal das einer Lokalzeitung nachempfundene Albumcover von "Thick As A Brick" genauer unter die Lupe genommen? Klar, unfassbar komisch die frei erfundenen Stories, und Blickfang auf dem Frontcoverfoto ist zweifellos die Hauptfigur des Albumgeschehens, der neunmalkluge Gerald Bostock, Gewinner eines Lyrikwettbewerbs für Schulkinder. Aber die junge Dame rechts außen am Fotorand? Schürzt sie nicht gekonnt den Rock ihrer Schuluniform und lässt ihr Unterhöschen aufblitzen? Ist das bei irgendeiner späteren Wiederveröffentlichung verschämt wegretuschiert worden? Eben, diese Band hatte es faustdick hinter den Ohren! Wer freilich die 40th-Anniversary-Editionen sämtlicher Alben von "This Was" bis einschließlich "Stormwatch" mit ihren exzellenten Booklettexten besitzt, wird in "The Ballade Of Jethro Tull" Neues höchstens aus der Zeit ab Mitte der achtziger Jahre erfahren. Für alle anderen bietet das Buch eine fabelhafte Einstiegslektüre, zuzüglich dutzender, teils seltener Fotoabbildungen.
Bernd Gürtler SAX 2/21
Jethro Tull: "Die Ballade von Jethro Tull" (Hannibal; 2020)