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Fast wie selbst dabei gewesen: Mitreißend und lebendig beschreibt Simon Goddards "David Bowie: Odyssee 70" eine Rockstarwerdung

Die wichtigste Sachinformation ist, dass David Bowies Augenfarbe gar nicht wirklich verschieden war, wie in der Vergangenheit vielfach kolportiert. Beide Augen sind blau gewesen, das linke wirkte lediglich graubraun, wegen unterschiedlich großer Pupillen, zurückbehalten aus Teenagertagen von einer Rauferei mit einem Schulfreund um ein Mädchen. Der Rest des Buches legt den Schwerpunkt auf das entscheidende Jahr der Rockstarwerdung. Gewählt eine mitreißende, lebendige Erzählform, die dem Leser fast das Gefühl vermittelt, selbst dabei gewesen zu sein.

Der Blues von "Liza Jane" und kuriose Noveltysongs wie "The Laughing Gnome" liegen 1970 hinter ihm. "Space Oddity", seine erste Hitsingle, war im Sommer des Vorjahres erschienen, inspiriert von Stanley Kubricks Weltraumleinwandepos "2001: Space Odyssey" und veröffentlicht wenige Tage vor dem Start von Apollo 11 zur ersten bemannten Mondmission der NASA. Die Scheibe zeigt Wirkung, der Künstler wird zur Kenntnis genommen. Aber wie weiter?

Die Folkanleihen des noch im Spätherbst 1969 nachgeschobenen, schlicht "David Bowie" betitelten zweiten Albums deuten in die falsche Richtung. Den dringend benötigten Karriereauftrieb bringen die ersten zwölf Monate des neuen Jahrzehnts, dank einer Verkettung zufälliger Ereignisse und gegenseitiger Wechselwirkungen.

Marc Bolan ist einer von David Bowies ärgsten Konkurrenten, ihr gemeinsamer Produzent Tony Visconti. Als Marc Bolan seinerseits sich anschickt, den Folk seiner Formation Tyrannosaurus Rex hinter sich zulassen und einen an die fünfziger Jahre angelehnten Neo-Rock'n'Roll zu erschaffen, der später unter der Bezeichnung Glamrock firmieren sollte, bekommt David Bowie frühzeitig Wind davon.

Dringend benötigt jetzt eine elektrisch verstärkte Gitarre, die ordentlich abrocken kann, erledigt Marc Bolan selbst. David Bowie findet in Mick Ronson aus dem nordostenglischen Hull seinen Gitarrero, dessen Sound eher an Black Sabbath erinnert, obwohl er Jeff Beck als wichtigstes Vorbild angibt.

Liiert war David Bowie bereits mehrmals, doch erst Angela Barnett, Tochter eines amerikanischen Armeeoffiziers, geboren auf Zypern, wird die Frau, die seinen Erfolg genauso will wie er selbst. Sie schlägt seinen bisherigen Mentor, den Pantomimen Lindsey Kemp aus dem Feld. Sie ist es, die einen Managerwechsel vorantreibt, von Ken Pitt zu Tony Defries, dem gelehrigen Ziehsohn eines gewissen Alan Klein, dem es gelang, sowohl die Rolling Stones als auch die Beatles nach allen Regeln der Kunst aufs Kreuz zu legen; als erstes trägt Tony Defries Sorge, dass David Bowie sich unkompliziert früherer Bandweggefährten entledigen kann.

Das und was sonst noch im London des besagten Schicksalsjahres geschieht, erzählt "David Bowie: Odyssee 70" (Hannibal) nie ohne Einbettung in den Zeitkontext. Was mitunter etwas weit hergeholt wirkt, schlussendlich aber immer seine Berechtigung behält.

Etwa wenn Buchautor Simon Goddard den brutalen Meuchelmord an einem Homosexuellen in Wimbledon Common einfließen lässt. Das neunundzwanzigjährige Opfer, Angestellter einer Kanzlei in Moorgate, wurde von vier Teenagern mit einem Zaunpfosten totgeschlagen, während acht weitere Gleichaltrige johlend drum herum standen. Die Episode vermittelt eindringlich, wie verwegen es geradezu gewesen ist, dass David Bowie sich damals in der Öffentlichkeit als bisexuell ausgab, er sich in einem Männerkleid, einem sogenannten Midirock, entworfen vom Inhaber einer trendigen Modeboutique in Mayfair ablichten ließ, gelangweilt hingestreckt auf einem Divan.

Ursprünglich gedacht die Fotografie für die Innenseite des Klappcovers zu Album Nummer drei, das von der Plattenfirma in "The Man Who Sold The World" umbenannt wurde, obwohl es "Metrobolist" heißen sollte, weil es angelehnt an Fritz Langs Stummfilmklassiker "Metropolis" einen Blick in die Abgründe der Großstadt wirft. Vorgesehen als Frontcover war eine Comiczeichnung des Grafikdesigners Michael Weller. David Bowie und er teilen eine Vorliebe für den englischen Schauspielersänger Anthony Newley, und soweit es diese Fußnote betrifft, da wird "Odyssee 70" richtig spannend.

Bislang wurden die Schauspielerfahrungen aus seiner Mitgliedschaft in Lindsey Kemps Theatertruppe als Erklärung bemüht, weshalb David Bowie sein Image einem Chamäleon gleich wechselte. Simon Goddard legt jedoch die Vermutung nahe, Anstoß könnte genauso gut das Frontcover zu Anthony Newleys Compilationalbum "Peak Performances" gewesen sein. Dort zu sehen Anthony Newley mit geschminktem Gesicht vor einem Künstlergarderobenspiegel sitzend. Aus dem Spiegel heraus schaut ihm er selbst ungeschminkt entgegen. "Newley in Alltagsklamotten schaut auf Newley den Clown. Wer ist echt, wer fiktiv? Wo hörte die Wirklichkeit auf?", denken David Bowie und Michael Weller der Überlieferung zufolge übereinstimmend und ahnen bereits, was sich mit der Erkenntnis anstellen lässt.

Maßgeschneiderten Begleithörstoff bietet die Doppel-CD "The Width Of A Circle" mit der Aufzeichnung eines Bühnenprojekts von Lindsey Kemp und David Bowie als singenden Hauptdarsteller. Enthalten des Weiteren eine BBC-Session vor Publikum, kautzig moderiert von John Peel, sowie frühe Studioeinspielungen von "The Prettiest Star" oder "Holy Holy". Letztere beiden Zeitdokumente die ersten Gelegenheiten, bei denen Mick Ronson in die Saiten greift, bevor er auf "The Man Who Sold The World" richtig loslegen darf und David Bowie als der erscheint, der er bis zu seiner Verwandlung in den Thin White Duke mehr oder weniger bleiben sollte.
Bernd Gürtler SAX 12/21 


Simon Goddard: "David Bowie: Odyssee 70" (Hannibal; 2021)
 

Foto: Tom Kelley

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