Bandgründer Murat Ertel ist der Sohn des über Landesgrenzen hinaus bekannten Grafikdesigners Mengü Ertel sowie Neffe der Cartoonisten Turhan Selçuk und Ilhan Selçuk. Geschuldet der familiären Vorprägung und eines elterlichen Freundeskreises aus intellektuellen Freigeistern, namhaften Literaten, Poeten, Malern, Bildhauern und Musikern, versucht er sich buchstäblich von Kindesbeinen in den meisten Disziplinen selbst. Ein Nachbarsjunge, Ahmet Güvenç, gehört mit seiner Formation Bunalım zu den ersten in der Türkei, die angloamerikanische Rockspielweisen adaptieren. Als Absolvent der Istanbuler English High School wird Murat Ertel mit Pink Floyd, Santana und den Doors vertraut.
Seine erste eigene, nennenswerte Band rekrutiert sich Mitte der achtziger Jahre aus ehemaligen Mitschülern, hört auf den Namen ZeN und legt den Schwerpunkt auf freie Improvisation. Zehn Jahre brauchte es dann noch, bis Baba Zula auf dem Radar erscheinen. Die Songformen, die Arrangements, die Instrumentierung, die Bühnenoutfits jetzt traditionell türkisch und doch so sehr im Geist des Rock artikuliert, dass leicht der Eindruck entstehen konnte, Elvis Presley und Chuck Berry seien keine Geschöpfe der amerikanischen Südstaaten, sondern der geographischen Schnittstelle zwischen Orient und Okzident entsprungen!
Baba Zula selbst bezeichnen ihren leicht psychedelischen Sound als Psychobelly Dance Music und pflegen gleichzeitig verwandtschaftliche Beziehungen zum Dub Reggae, weshalb für zwei ihrer frühen Alben mit Mad Professor eine Koryphäe der Stilgattung als Gastmitstreiter verpflichtet wurde. Beide Veröffentlichungen grandios, sehr bald aber übertroffen durch "Gecekondu", "34 Oto Sanayi" oder das experimentelle "Derin Derin".
Zum Zeitpunkt, als Fatih Akins "Crossing The Bridge-The Sound Of Istanbul" Kinopremiere feiert, bewarb sich die Türkei aktiv um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nonkonformisten wie Baba Zula galten damals als opportun, dank ihrer konnten offizielle Stellen Weltoffenheit demonstrieren. Fatalerweise wendet sich das Blatt alsbald wieder. Bereits "XX", eine Kopplung aus neuen und neu arrangierten, bekannten Stücken anlässlich des zwanzigsten Gründungsjubiläums, kann nicht in der Türkei erscheinen. Das Hamburger Label Glitterbeat, spezialisiert auf Weltmusik der Gegenwart, muss einspringen.
"Istanbul Sokakları" wirkt verhaltener, bleibt in der Sache dennoch unverändert kritisch, nachvollziehbar gemacht auch für ein der türkischen Sprache nicht unbedingt mächtiges Publikum durch die Begleitvideos wie beispielsweise im Fall "Arsız Saksagan". Das ist die gute Nachricht, die Subkultur lebt, selbst unter autokratischen Machtverhältnissen.
Bernd Gürtler/TM
Baba Zula
"İstanbul Sokakları"
(Glitterbeat; 8.11.24)
Baba Zula im Netz
Website | Facebook | Instagram | Twitter | YouTube | Spotify | Deezer | Apple | Bandcamp