Geboren am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in Köln als Christa Päffgen, bietet sich ihr von Berlin aus die Chance, über eine Modelkarriere dem tristen Nachkriegsdeutschland zu entfliehen. Sie verlegt ihren Lebensmittelpunkt nach Paris, später London und New York, versucht sich als Schauspielerin, schließlich Sängerin und wird von Andy Warhol mit den soeben gegründeten The Velvet Underground zusammengebracht. Einen Schallplattenvertrag ergattert die Band hauptsächlich wegen Nicos attraktiver Erscheinung, sehr zum Missfallen von Lou Reed, was keineswegs ungelegen kommt. Anknüpfen wollte Nico ohnehin an das von der Singleeinspielung "I'm Not Sayin'" eingeläutete Soloschaffen und bekommt umgehend Gelegenheit dazu. Wenige Wochen nach The Velvet Undergrounds Debütalbum erscheint im November 1968 mit "Chelsea Girl" ihr erster Sololangspieler.
"The Marble Index" folgt im Jahr darauf und unterscheidet sich vom Üblichen radikal. Kein Folkrock im Stil von Joni Mitchell, Jackson Browne oder Tim Hardin wie beim Albumvorgänger noch. Keine Blueseinflüsse, keine Psychedelia nach Art von Janis Joplin oder Jefferson Airplanes Grace Slick weit und breit. Ermutigt durch Jim Morrison von den Doors entdeckt Nico das Harmonium für sich und schreibt ihre Songs jetzt komplett selbst. John Cale, ebenfalls auf Betreiben von Lou Reed bei The Velvet Underground ausgeschieden, findet sich als kongenialer Mitstreiter. Gleichfalls Europäer von Geburt, obendrein geschult an klassischer beziehungsweise avantgardistischer Musik, dreht er "The Marble Index" ins moderne, europäische Kunstlied. Eine wahre Sternstunde, mit nichts vergleichbar, weder damals noch heute!
In seiner Autobiographie "What's Welsh For Zen" erinnert sich John Cale, beim finalen Abhören der Songs sei Nico angesichts der überwältigenden Schönheit seiner Arrangements in Tränen ausgebrochen. Die Musikkritik reagiert eher verstört, wegen der angeblichen Düsternis. Noch zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung überschreibt Alan Bangs einen Kurzessay zum Album mit "Your Shadow Is Scared Of You: An Attempt Not To Be Frightened By Nico". Ewig rätselhaft bleibt mancher Songtext und erst recht der Albumtitel. "The Marble Index", worauf wollte die Künstlerin hinaus? Als erwiesen gilt bislang lediglich, dass William Wordsworths Magnus Opus "The Prelude" Pate stand, und zwar jener kurze Abschnitt, der Bezug nimmt auf seine Zeit an der University Of Cambridge, wo er des Nachts in seiner Studentenkemenate manchmal an die Marmorstatue von Isaac Newton in der Kapelle des Trinity Colleges denken musste. Dass "Ari's Song" ihren Sohn mit Schauspieler Alain Delon betrifft, erschließt sich sofort.
Nicos Kindheitserinnerungen vermuten Kommentatoren diverser Internetplattformen hinter Zeilen wie "Over railroad station tracks/Faintly flickers a modest cry" aus "Frozen Warnings". Während des Zweiten Weltkriegs zieht Nico mit der Mutter zu Verwandten nach Berlin und wird von dort wegen der Bombenangriffe alliierter Luftstreitkräfte nach Lübbenau im Spreewald evakuiert, wo die beiden in einem Haus am Bahnhof unterkommen. Die Züge aus dem Songtext sind möglicherweise KZ-Transporte gewesen.
Nach "The Marble Index" hat Nico genug von New York, sie kehrt nach Paris zurück, Obdach gewährt der französische Filmemacher Philippe Garrel. In London entsteht "Desert Shore", Soloalbum Nummer drei, das mit "Janitor Of Lunacy" einen ihrer bekanntesten Songs enthält. "Abschied" und "Mütterlein" sind auf Deutsch gesungen. "Le petit chevalier" nennt Sohn Ari als Gastsänger. Sowohl "The Marble Index" als auch "Desert Shore" liegen jetzt als Wiederveröffentlichungen vor, klanglich überarbeitet und erweitert um Bonustracks.
Bernd Gürtler/TM
Nico: "The Marble Index" (Domino; 29.3.24)
Nico: "Desert Shore" (Domino; 29.3.24)
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