Mit jedem Song kann "Heartbeat-Shake" aufs Neue überraschen. Verblüffend die Klangdichte, meistenteils finden sich mehrere Ebenen übereinandergeschichtet und korrespondieren untereinander. Ziemlich raffiniert!
Johannes Till: Keiner von uns konnte wissen, was es am Ende geben würde. Unser Ansatz war, dass wir uns keinem bestimmten Sound, keiner bestimmten Stilistik verschreiben, sondern jeden Song seinen Bedürfnissen entsprechend gestalten. Der Facettenreichtum hat uns selbst überrascht.
Carina Hajek: Genau, und es wurden zu jedem Song mehrere Versionen ausprobiert. Wir wollten uns Zeit lassen, bis wir zufrieden sind.
Johannes Till: Wir wollten nichts erzwingen, sondern auch verwerfen, immer so lange arbeiten, bis wir bei jedem Song, ein gutes Gefühl ist falsch, aber ein Gefühl bekommen und nicht denken, das ist jetzt aufgenommen, belassen wir es dabei.
Die Songtexte, Carina, schreibst du dir als Sängerin immer noch selbst?
Carina Hajek: Die Texte stehen meist als Idee im Raum und werden von mir zuhause ausformuliert.
Johannes Till: Es gibt bei uns nicht die eine Art des Songschreibens, nicht den einen Songschreiber. Wenn wir zusammenkommen, spielen wir uns gegenseitig Ideen zu. Manchmal weiß keiner mehr, von wem welche Idee stammt. Wir nehmen unsere Proben auch auf. Das wird in eine Dropbox hochgeladen, zu der jeder Zugang hat, und jeder kann Ideen ergänzen oder Änderungsvorschläge anbringen. Jeder gibt seins dazu. Das kann ein Groove sein, der uns antreibt, oder eine Songtextidee von Carina.
Carina Hajek: Und die Songtexte sind keine Gedichte, die ich mir ausleihe oder so, sondern eigene Texte. Wenn ich an einer Stelle nicht weiterkomme, versuchen wir es mit vereinten Kräften. Wir besprechen die Inhalte, teilweise sind das sehr persönliche Themen, keine beliebigen Liebeslieder.
Von dir, Carina, heißt es, du würdest viel lesen?
Carina Hajek: Ich würde gern noch mehr lesen, ich komme in meinem Alltag bloß nicht dazu. Aber ich liebe das Lesen. Ich bin glücklich, wenn ich lesen kann.
Lässt sich sagen, welche Bücher den literarischen Hintergrund zu "Heartbeat-Shake" bilden?
Carina Hajek: Zu der Zeit, als wir mit dem Album beschäftigt gewesen sind, habe ich viel von Paul Auster gelesen und viel von Ocean Vuong, zwei seiner Romane und einen Band mit Gedichten. Seine Gedichte nehme ich bei Konzerten oft mit auf die Bühne und lasse mich inspirieren. Seine Texte berühren mich.
Johannes Till: Eigentlich ist das ein ganzer Stapel an Büchern, den du inzwischen mit auf die Bühne nimmst.
Carina Hajek: Stimmt, Kindergedichte von Shel Silverstein, von Dale Carnegie "How To Win Friends And Influence People". Manchmal habe ich auch Bücher dabei, die ich zufällig finde oder geschenkt bekomme. Aber Ocean Vuong ist noch immer eine unglaubliche Inspiration. Auch wegen seiner Weltsicht und wie die durchscheint in seinen Gedichten und Geschichten.
Was ist das Besondere an Ocean Vuongs Blick auf die Welt?
Carina Hajek: Er ist Amerikaner, stammt aber aus Vietnam, und schreibt über das Amerika an den Rändern der Gesellschaft. Sein literarisches Werk kennt keine Helden, seine Figuren sind Alltagsmenschen, für die der American Dream nicht in Erfüllung geht. Er beschreibt, wie das Leben wirklich ist, nicht das Hochglanzamerika, das es für die Mehrheit gar nicht gibt.
Im Zusammenhang mit eurem Debütalbum hieß es, deine Songtexte würden von Dämonen handeln, die dich und andere heimsuchen. Trifft das nach wie vor zu?
Carina Hajek: Ich würde sagen, ja. Die Dämonen sind immer noch da und gehen wahrscheinlich auch nicht weg. Aber ich denke, bei "Heartbeat-Shake" sind sie benennbarer geworden.
Carina, du bist gebürtige Britin und über New York nach Dresden gekommen. Das aktuelle Presseinfo des Schallplattenlabels verrät eine Zwischenstation, nämlich Belgien.
Carina Hajek: Geboren bin ich in London. Als ich ein Jahr alt war, zog meine Familie nach Belgien, von dort nach Connecticut und weiter nach New York. Ich bin Britin, Amerikanerin und besitze außerdem einen tschechischen Pass. Meine Großeltern sind in den fünfziger Jahren aus Prag geflohen. Mein Großvater, ein Sportler, war Tscheche, und ist in den fünfziger Jahren mit seiner Familie nach London emigriert. Leider beherrsche ich die Sprache nicht, höre das Tschechische aber sehr gern. Wenn ich Menschen begegne, die Tschechisch sprechen, denke ich jedes Mal, irgendwann lerne ich auch noch Tschechisch.
Euer Bassist Richard Elms ist ebenfalls Brite von Geburt, euer Schlagzeuger Matthias Günther zwar Deutscher, aber kommt ursprünglich aus der bildenden Kunst.
Johannes Till: Mit Matthias hat die Band angefangen, er und ich sind gewissermaßen der Ursprung. Wir kennen uns seit Ewigkeiten und haben bei ihm zuhause bereits als Teenager Musik gemacht.
Ist euer Schlagzeuger mehr Bildhauer oder Maler? Und hört man das in seinem Schlagzeugspiel?
Johannes Till: Er ist vor allem Künstler, Lebenskünstler würde ich sogar sagen. Aber er spielt eher wie ein Maler, nicht wie ein Bildhauer.
Carina Hajek: Sein Spiel erinnert an dezente, nicht unbedingt akkurate Pinselstriche.
Johannes Till: Stimmt, er nutzt eher den Tuschekasten als den Meißel.
Tinted House sind also eine international besetzte Band, obendrein interdisziplinär orientiert und somit das komplette Gegenteil von dem, was überregional in der Regel über eure Heimatstadt Dresden kolportiert wird. Wie geht ihr damit um?
Johannes Till: Wir alle leben in der Dresdner Neustadt, einer wunderbaren Blase, wo wir vieles nicht mitkriegen, was man über Dresden hört. Bei uns ist es sehr international, sehr offen. Mich macht es traurig, dass die Stadt, in der ich sehr gern lebe, einen so schlechten Ruf hat. Wir versuchen, einen Gegenentwurf anzubieten, indem wir als Menschen unterschiedlicher Kulturkreise gemeinsam Musik machen.
Carina Hajek: Ich überlege auch oft, was man tun könnte, um mehr Menschen in unsere Blase zu holen. Jeder sitzt fest in seiner Blase, viele verweigern sich der Realität.
Johannes Till: Vieles kommt aus einer durchaus verständlichen Angst. Wir als Band wollen keine Angst haben und lieber das eine oder andere ausprobieren. Wichtig ist, dass wir uns trauen, ein Beispiel geben, dass es Sinn macht.
Eine internationale, sogar interdisziplinäre Besetzung, deren Mitglieder neben der gemeinsamen Band vielfältigen weiteren Aktivitäten nachgehen; mit Ludwig Bauer ist ein ehemaliges Mitglied von Polarkreis 18 dabei. Worin besteht der Kitt, der Tinted House zusammenhält?
Johannes Till: Freundschaft würde ich spontan sagen. Es ist schon so, dass wir sehr gern auch etwas zusammen machen, auch ohne Musik. Das ist der allerwichtigste Kitt, wir wollen niemals vergessen, dass wir Freunde sind.
Carina Hajek: Uns ist Freundschaft, das Zusammensein in einer Gruppe, wichtig. Wenn jemand nicht gut drauf ist, unterstützen wir einander. Die Band soll kein Business werden, wir haben auch alle Familien. Es ist schön, dass wir es schaffen, uns mindestens einmal die Woche zum Musikmachen zusammenzufinden. Wenn die Bandchemie stimmt, kann Großartiges gelingen.
Bernd Gürtler/TM
Tinted House
"Heartbeat-Shake"
(It's A Gas/K&F; 5.9.2025)
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