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Steiner & Madlaina: Dynamische Lebensklugheit

Der Blick auf die Welt differenziert sich mit dem Älterwerden. Eine Binsenweisheit, die für Heiterkeit sorgt beim Interviewtermin mit Nora Steiner & Madlaina Pollina Mitte April 2023 im Kneipenbereich der Tilsiter Lichtspiele in Berlin. Aber die beiden Schweizerinnen sind inzwischen auch nicht mehr dieselben wie zu Beginn ihrer Musikantenkarriere und erfreulich natürlich, dass sie uns teilhaben lassen an ihrer dynamischen Lebensklugheit, erst neulich wieder durch "Risiko", dem dritten Album des Duos nach dem Überraschungsdebüt "Cheers" und Nachfolger "Wünsch mir Glück".

Die Beziehungssongs eurer ersten beiden Alben hatten etwas Argloses, Naives im besten Sinne. Auf "Risiko" enthält "Wahre Liebe" die Textzeilen "Du bist mir schon einmal entwischt, hast mir Märchen aufgetischt, das mit uns sei vorbei" oder "Wenn wir uns sogar trennen können, sag mir, was können wir dann nicht?". Das kann nur jemand schreiben, der eine gewisse Wegstrecke praktischen Lebens zurückgelegt hat und weiß, dass eine Trennung nur vorgeschoben sein könnte, vielleicht weil derjenige, der geht, nicht sicher ist, ob er der Herausforderung gewachsen ist. Oder gerade durch die Trennung deutlich wird, dass mehr Gemeinsamkeiten bestehen als gedacht.
Madlaina Pollina:
Ziemlich schräg, was du da sagst. Ich meine, ich denke heute sicher anders als mit achtzehn. Aber ich selbst kann das gar nicht analysieren. Ich sehe mir selbst auch nicht an, dass ich älter werde, weil ich mich jeden Tag sehe. Außenstehende nehmen das sicher anders wahr oder?
Nora Steiner: Wahrscheinlich, auch in Bezug auf "Wahre Liebe".
Madlaina Pollina: Ich werde sicher nicht widersprechen, ich kann bloß schwer einen noch interessanteren Einblick bieten. Für uns ist das ganz natürlich gekommen. Klar, wenn du die drei Alben anhörst, kannst du sicher Unterschiede feststellen. Aber weniger inhaltlich. Wir sind handwerklich besser geworden, beim Songwriting.
Nora Steiner: Das ist ein Lernprozess. Man wird besser, entwickelt einen eigenen Stil, der sich ändert mit der Zeit.

Es ist richtig und nur gut, wenn die Songtexte mit der Lebenserfahrung mitwachsen. Nichts dagegen einzuwenden.
Madlaina Pollina: Du meinst, dass wir uns auf "Risiko" erwachsener anhören als früher?

Genau das!
Madlaina Pollina: Okay, da wären wir von selbst nicht drauf gekommen.

Mit "Paradies" widmet ihr euch dem Wohlstandsvorteil der Schweiz. Schon auf den ersten beiden Alben ist das Thema an prominenter Stelle vertreten gewesen.
Nora Steiner: Das wird immer ein Thema bleiben.
Madlaina Pollina: Die Frage ist, auf wie viele Arten wir das noch verpacken können, bevor es langweilig wird. Aber für uns ist es wichtig, das anzusprechen. Es ist eins der gravierendsten Probleme, dass sich die Leute in der Schweiz ihres Wohlstands zwar bewusst sind, aber zu wenig bedenken, dass aus dem Privileg Verantwortung erwächst. Klar, die Schere zwischen Arm und Reich ist auch in der Schweiz sehr groß. Aber der generelle Wohlstand bewegt sich auf hohem Niveau. Wir sind damit aufgewachsen, wir sehen das immer. Aber viele können sich das gar nicht vorstellen.
Nora Steiner: Ich finde es mittlerweile auch für uns absurd, wenn man in bestimmten Vierteln nur noch Teslas und Porsches und Mercedes sieht. Das Beste vom Besten, das macht schon Eindruck.
Madlaina Pollina: Und das sind nur die oberflächlichen Merkmale, die Autos, die Zähne der Leute und die Fingernägel der Leute. Ich wohne mittlerweile in Wien, was auch keine arme Stadt ist. Aber wenn ich nach Zürich komme, ist das jedes Mal krass. Bei allen weiße Zähle, perfekte Maniküre, auch bei Männern. Teure Uhren an den Handgelenken, teurer Schmuck. Die Autos so sauber, so perfekt, keine einzige Delle. Das ist eine ganz andere Kategorie. Dass man da nicht vergisst, dass es vielen deutlich weniger gut geht, daran werden wir immer erinnern.

Es hat sich in den fünf Jahren seit eurem Debütalbum nichts wirklich verändert?
Madlaina Pollina: Der Bankenskandal könnte eine Zäsur bringen. Aber wer weiß, die Schweiz ist ein ausgesprochen konservatives Land, das es schafft, die Dinge zu bewahren wie vor einhundert Jahren. Es ist echt erstaunlich.

Euer Song "Mama Liebe" betrifft weibliche Selbstbestimmung. Auch ein Thema, das bereits auf den beiden Vorgängeralben verhandelt wurde. Diesmal erfährt die geneigte Hörerschaft, woher eure Inspiration kommt, von euren Müttern nämlich. Zu solchen Müttern kann man nur gratulieren!
Madlaina Pollina: Genau das wollen wir sagen, dass wir ein Riesenglück hatten. Wir wollen danke sagen. Nicht danke den Müttern, die sich aufopfern und eigene Lebensentwürfe aufgeben wegen der Kinder. Weil unsere Mütter es nicht tun wollten, gerade deshalb sind sie Vorbilder. Sie führten selbst ein tolles Leben und zeigten uns, ihr könnt das auch. Ihr könnt werden was ihr wollt! Das ist wichtiger als das eigene Leben aufzugeben.

Hängen bleibt im Anschluss aus "Man tut was man kann" die Zeile "Seit ich weiß, es ist schlecht, bin ich nicht mehr geflogen. Seit ich weiß, es ist schlecht, habe ich nie mehr betrogen".
Madlaina Pollina: Es geht um Selbstbetrug und wie weit man damit kommt. Wie weit es einen selbst bringt, wie weit es einem selbst oder anderen oder vielleicht gar niemandem schadet. "Man tut was man kann" ist ein Song, dort habe ich mich richtig ausgetobt.

Beim Textschreiben?
Madlaina Pollina: Ja, dort lag der Fokus auf dem Rhythmus der Worte, dass die Worte, wenn sie richtig gewählt sind, das Tempo vorgeben.

Also dass die Musik eigentlich immer schon im Text drinsteckt?
Madlaina Pollina: Richtig, und anders als bei anderen Texten wird das voll ausgereizt. Auch musikalisch ist das der Song des Albums mit den meisten Experimenten.

In "Besser wird’s nicht" heißt es, "Man sucht sich Familie nicht aus. Mütter sind ständig besorgt. Die übelsten Täter sind noch immer die Väter". Worum geht es?
Nora Steiner: Was wir vielleicht generell sagen sollten, ist, dass bei uns sehr viel Witz in den Songtexten steckt. Das muss man nicht wörtlich nehmen.

Bei "Engel am Hauptbahnhof" wäre noch interessant zu wissen, wovon der Song berichten will.
Nora Steiner: Ich wollte eine Geschichte erzählen, auf eine Art, wie ich unter anderen schreibe. Ich stelle mir gern Situationen vor, die sich so abspielen könnten. "Engel am Hauptbahnhof" könnte so am Züricher Hauptbahnhof stattfinden. Dort schwebt diese riesige Engelsskulptur von Niki de Saint Phalle unter der Kuppel der Eingangshalle. Ich überlegte, was der Engel den Tag über wohl beobachtet. Die Liebespaare, die sich treffen oder wiederbegegnen? Die Menschen, die im Café Oscar sitzen und es sich gut gehen lassen? Bahnhöfe haben etwas sehr Sentimentales, Emotionales.
Madlaina Pollina: Das ist aufgebaut wie ein Film oder? Es gibt doch Filme, die einen Mittelpunkt haben, wo mehrere Geschichten zusammenlaufen.
Nora Steiner: Genau, Geschichten, wie ich sie selbst gern beobachte, wenn ich an Bahnhöfen bin. Wenn Liebespaare nach langer Trennung wieder in den Armen liegen, das ist etwas Wunderschönes. Oder die Menschen, die gestresst sind. Es sind Beobachtungen, in eine Geschichte verpackt.

Der letzte Song ist auf Schweizerdeutsch und heißt "Ich blibe und du gahsch".
Madlaina Pollina: Da geht es um Abschiednehmen. Wer sich keiner Religion angehörig fühlt, kann sich auf keinen vorgezeichneten letzten Weg verlassen, sondern muss für sich selbst etwas finden. Der Song beschreibt, was ich für mich gefunden habe.

Was auch auffällt, die stilistische Hinwendung zum Pop mit "Wünsch mir Glück" soll offenbar eine vorübergehende Episode bleiben. "Risiko" ist Rock, der die Bezeichnung sogar noch eher verdient als das Debütalbum.
Nora Steiner: Bei "Wünsch mir Glück" war das in den Songs angelegt. Wir hatten bei "Risiko" wieder Lust auf etwas anderes.
Madlaina Pollina: Die Songs zu "Wünsch mir Glück" sind fertig geschrieben gewesen, bevor es im Studio an die Einspielung ging. Diesmal sind wir das Album schon viel früher mit der gesamten Band angegangen; derselben Band, mit der wir seit dem Debütalbum arbeiten. Deshalb ist "Risiko" bandlastiger geraten. Vermutlich ist auch mehr Spielfreude dabei gewesen. Durch Corona entstand eine lange Zwangspause. Uns hat das Musikmachen gefehlt.

Kann es sein, dass sich auch eure Stimmen stärker voneinander unterscheiden?
Madlaina Pollina: Ist das so?

Man merkt jedenfalls von Song zu Song, dass jemand anderes singt. Ihr ergänzt euch heute eher durch Unterschiede als durch Gemeinsamkeiten.
Nora Steiner: Auf "Risiko" ist es tatsächlich so, dass diejenige, die den Song geschrieben hat, Leadstimme singt und die andere im Refrain Chorstimme ergänzt. Früher haben wir vieles gemeinsam gesungen.
Madlaina Pollina: Oder liegt es vielleicht daran, das wir älter geworden sind?
Bernd Gürtler SAX 11/23


Steiner & Madlaina
"Risiko"
(Glitterhouse; 14.4.23)


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Foto: Nils Lucas
Foto: Nils Lucas

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