Weißt du noch, aus welchem Textfragment "Weite Landschaft", der Eröffnungssong zu "Pseudopoesie", von dir entwickelt wurde?
Das weiß ich noch sehr genau, das sind zwei Zeilen aus einem Song gewesen, der ursprünglich auf dem Albumvorgänger "Putzlicht" erscheinen sollte, mir aber nicht gut genug gelungen erschien. Es handelt sich um den Refrain von "Weite Landschaft", wo es heißt "Es war eine weite Landschaft, bevor du sie runtergebrannt hast/Es war eine weite Landschaft, bevor du ein Hochhaus darauf gebaut hast".
Das sind aber auch zwei grandiose Songtextzeilen!
Ja, und es ist ein Trennungslied geworden, das auf gar keinen Fall ein Trennungslied sein will. Bloß nicht leiden, bloß nicht der Verlassene sein, sondern alles super, mir geht's gut, sagt die Musik. Ich mag es, wenn Text und Musik einen gewissen Gegensatz bilden, wenn ein trauriger, düsterer Songtext von einer leichten Melodie getragen wird und umgekehrt, ein Songtext heiter, die Musik aber traurig ist. Das sind die Lieder, die wirklich ans Herz gehen, weil sie so um die Ecke kommen.
Der Videoclip zu "Weite Landschaft" scheint die Gegensätzlichkeit von Songtext und Musik abbilden zu wollen. Du wirst gezeigt, wie du an einem trüben Wintermorgen über einen See ruderst. Dazwischen geschnitten Bilder von einer Frau, die sich auf dem Rummelplatz vergnügt.
Beim Videodreh sagten wir, lasst uns das bloß nicht nach so einer Beziehungsgeschichte aussehen, sondern der eine führt da sein Leben, der andere dort. Beides hat vielleicht gar nichts miteinander zu tun. Aber da sagst du natürlich was. Der Song "Fremd in der Welt" verbreitet auch so eine fröhliche Weltuntergangsstimmung, ist aber tanzbar. Wäre es ein depressives "Fremd in der Welt", weiß ich gar nicht, ob mich das selbst interessieren könnte. Ich mag melancholische Stimmungen, aber nicht, wenn sich das bloß um sich selbst dreht. Es muss Wendungen, Überraschungen geben.
Wo wurde der Teil des Videos zu "Weite Landschaft" mit dir im Ruderboot gedreht. Auf dem Küchensee in Schleswig-Holstein, der in einem Song deines Albums "Zettel auf dem Boden" Erwähnung findet?
Nein, das ist in Mecklenburg-Vorpommern passiert. Es war sehr schön dort und sehr kalt, um die Null Grad. Wir sind sehr weit rausgerudert. Meine Schwester fragte hinterher, ob wir wenigstens Schwimmwesten an Bord gehabt hätten. Hatten wir natürlich nicht. Es sollte gut aussehen, auf den Sicherheitsaspekt wurde deshalb weniger Wert gelegt. Ziemlich grenzwertig das Unterfangen, muss ich im Nachhinein zugeben.
Gibt es Landschaften, die dir besonders wohl tun?
Ja, ich bin in Hamburg geboren und aufgewachsen und lebe nach wie vor dort. Ich bin ein Großstadtmensch, ich freue mich über jede Gelegenheit, aus der Stadt rauszukommen. Ich liebe die Ostsee, die Nordsee, die Mecklenburger Seenplatte. Am Wasser bin ich zufrieden.
Kann der Blick über eine weite offene Wasserfläche dem Kreativschaffenden nicht auch beim Gedankenordnen behilflich sein?
Auf jeden Fall! Das geht an die Urängste des Menschen. Wenn er den Horizont sieht und kein Gegenüber, das eine Bedrohung sein könnte, kommt er zur Ruhe. Tatsächlich fahre ich, wenn ich Abstand beim Schreiben brauche, raus aus der Stadt und lasse den Alltag hinter mir.
Der Rummelplatz aus dem Video zu "Weite Landschaft" kehrt im Songtext zum Titelsong zu "Pseudopoesie" zurück, wenn von einer "Achterbahnfahrt in einem tristen Heile-Welt-Roman" die Rede ist.
Ich fühle mich ertappt, ich bin tatsächlich ein Freund der Rummelplatzmetaphern. Das ist ein bisschen wie bei den Küchenmetaphern, die auch häufiger bei mir vorkommen. Bestimmte Orte ergeben bestimmte wunderbare Bilder.
Der "triste Heile-Welt-Roman" bedeutet aber nicht, dass du an den eigenen Songtextschreiberfähigkeiten zweifelst oder?
Naja, in dem Song geht es schon auch darum, dass ich mich frage, was mache ich eigentlich hier. Ist es richtig, so viel Energie, so viel Gefühl zu investieren? Das geht jetzt wirklich ans Eingemachte, was ich sage, aber ich frage mich durchaus, ob das gut und richtig ist, was ich tue. "Pseudopoesie" als Albumtitel ist etwas anderes, da wird es plakativer. Genommen habe ich das Wort, weil es sich gut anhört, weil es geschrieben gut aussieht. Die Buchstabenarchitektur ist bemerkenswert. Natürlich provoziert das Wort auch, nur für mich ist es positiv besetzt. Ich sehe einen gewissen Kitsch durchschimmern, und ich mag guten Kitsch. Nicht jeder könnte das Wort als Albumtitel verwenden. Meine Plattenfirma meinte aber, bei mir würde es funktionieren. Daraufhin habe ich mir meine Songtexte erneut angeschaut, ob ich mir nicht selbst ein Bein stelle und euch Journalisten eine Steilvorlage liefere.
Inwiefern?
Wenn ein Album "Pseudopoesie" heißt, lässt sich das entweder als Koketterie auslegen oder es lädt ein zu sagen, stimmt doch, viel mehr als Pseudopoesie ist es nicht.
Der Song "Fremd in der Welt" befasst sich ebenfalls mit der Frage, ob deine Mühe überhaupt lohnt. Was kostet es dich, es trotzdem immer wieder zu versuchen?
Ich empfinde die Selbstzweifel nicht unbedingt als Bremse, für mich sind sie eher förderlich. Ich fahre besser damit, als wenn ich mir meiner Sache zu sicher bin. Ich bin jemand, der immerzu reflektieren und hinterfragen muss. Es kann durchaus eine Stärke sein, nicht zu kritisch zu sein. Aber wenn ich es nicht bin, winke ich zu vieles durch, womit ich hinterher unzufrieden bin. Insofern fällt es mir nicht schwer, es immer wieder zu versuchen, weil ich weiß, dass der Weg sich lohnt. Dadurch, dass ich früher sehr viele Platten in sehr kurzer Zeit geschrieben habe, habe ich es schätzen gelernt, wenn ich mit einem Album wirklich zufrieden sein kann. Früher konnte ich das nicht, früher war ich immer unglücklich. Das musste sich ändern, sonst hätte das für mich keinen Sinn mehr ergeben. Ich bin froh, dass ich einen neuen Weg gefunden habe.
Die Textzeile "Ich singe in einem Käfig wo die Algorithmen nicht greifen" bezieht sich vermutlich darauf, dass deine Songs in keine der Playlists der Streaming-Plattformen passen und jedes Mal durchs Raster fallen.
Nun, wir leben in einer Welt, in der Algorithmen eine immer größere Rolle spielen und Zahlen, Klickzahlen zum Maßstab der Dinge werden. Ich bin mir nicht so sicher, ob das der Popmusik guttut, dieses Vergleichen der nackten Zahlen. Weil keine wirkliche Transparenz besteht, wie die Zahlen zustande kommen. Der Algorithmus ist nicht unbedingt mein Freund, weil ich einen relativ eigenständigen Sound habe, ich in keinem klar definierten Genre unterwegs bin wie HipHop oder Punkrock. Ich stehe ziemlich für mich, weshalb selten auf meine Musik weitergeleitet wird. Ich bin nicht so leicht einzuordnen, was Vorteile hat, aber eben auch Nachteile, die ich in Kauf nehmen muss.
Der letzte Song von "Pseudopoesie" heißt "Ende 17". Das liest sich als hätte es verschiedene letzte Songs gegeben und die Entscheidung fiel auf Nummer siebzehn?
So habe ich das noch gar nicht betrachtet, auch eine schöne Idee! Aber nein, es geht um das Alter mit Ende siebzehn, als ich als Vorstadtpunk in die Hamburger Szene hineingeraten bin. Es ist ein Blick zurück, der nicht wehmütig sein soll und schnell wieder in die Gegenwart gerichtet ist.
Welche Erinnerungen hast du an deine frühen Jahre in Hamburg?
Hauptsächlich, dass ich zu jung war für das, was auf mich einprasselte. Ich war hinter allem hinterher, alle um mich herum sind älter gewesen. Mit achtzehn, neunzehn entschloss ich mich, mit der Musik ernst zu machen, zu versuchen einen Plattenvertrag zu bekommen. Auch da war ich eigentlich noch nicht so weit. Ich hatte mit siebenundzwanzig schon vier Alben eingespielt. Ich bin neidisch auf Kollegen, die mit siebenundzwanzig ihr Debütalbum vorlegen, weil sie dann schon etwas mehr Kontrolle über das haben, was sie tun. Im Nachhinein betrachte ich meine Karriere nicht als optimal, ich hätte später beginnen sollen. Aber ich wollte es so sehr. Aus heutiger Sicht muss ich gestehen, hätte ich mir damals schon mehr Zeit lassen sollen.
Bernd Gürtler SAX 5/23
Niels Frevert
"Pseudopoesie"
(Grönland; 24.3.2023)
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