Sie selbst bezeichnet das als Schärfen der Wahrnehmungsbrille, praktisch umgesetzt als Vertonung von Sprache nach dem Hörspielprinzip. Geboren wird Balbina Monika Jagielska, wie sie bürgerlich heißt, 1983 in Warschau. Im Alter von zweieinhalb Jahren zieht sie mit den Eltern nach Westberlin. Das angeborene Polnisch bleibt ihre zweite Muttersprache, das adoptierte Deutsch wird ihre erste. Aus ihrer bilingualen Situation heraus entdeckt sie im Deutschen Eigenarten, die den meisten, die Deutsch gewissermaßen in die Wiege gelegt bekommen, schlicht entgehen.
Einen frühen Fußabdruck im Musikuniversum hinterlässt Balbina im Dunstkreis des Westberliner HipHop-Labels Royal Bunker, wo unter anderem Prince Pi und die Orsons veröffentlichten. Ohne, dass sie irgendwann selbst mit HipHop in Erscheinung treten wird, aber sie ist fasziniert von der Hingabe, mit der die besseren deutschsprachigen HipHopper an ihren Texten feilen.
Derart biographisch geprägt und musikalisch sozialisiert, erscheint 2015 ihr Debütalbum "Über das Grübeln", gefolgt 2017 von "Fragen über Fragen". Beide Scheiben sind von einer Außergewöhnlichkeit gewesen, dass als einzige Orientierungsgröße die Isländerin Björk blieb.
Balbina wäre freilich nicht Balbina, würde sie sich auf redlich erworbenem Lorbeer ausruhen. "Punkt." vom Januar 2020 setzt neue Akzente. Der Gesang hat an Intensität zugelegt. Zum Einsingen holte sie sich Publikum ins Studio. In der sterilen Studioatmosphäre, sagt sie, hätte sie sich früher nie getraut zu zeigen, was sie kann, sondern ihre Stimme in den Dienst der Songtexte gestellt.
Das neue Album ist elektronischer, die Beats wirken radikaler und finden sich gleichzeitig mehr als Gestaltungsmittel eingesetzt. Die elektrische Gitarre rückt stärker in den Fokus. Erstmals gibt es Textpassagen in englischer Sprache, erstmals mit Rammsteins "Sonne" eine Coverversion. Und "Punkt." ist das erste Album auf dem eigenen Label, dessen Gründung sich dem Umstand verdankt, dass es galt, ermüdende Diskussionen mit Leuten loszuwerden, die immer vorher schon zu wissen glauben, dass Balbinas Ideen nicht funktionieren werden. Die Energie fließt jetzt in die kreativen Prozesse. Ach so, und Herbert Grönemeyer, ihr Entdecker und selbstloser Förderer, konnte als Gastvokalist für das finale "Machen" gewonnen werden, das eine ziemlich treffgenaue Beschreibung ihres eigenen Wesens als rastlose Künstlerin liefert. Es steht jetzt schon fest, dass sie sich derzeit wieder bloß in einer Phase des Schwungholens befindet.
Denn was ist ein Album, das "Punkt." heißt und das entsprechende Satzzeichen zusätzlich zum geschriebenen Wort im Albumtitel führt, also genaugenommen Doppelpunkt heißen müsste? "Für viele", sagt Balbina, "ist der Punkt ein Schlusszeichen, im Sinne von, jetzt mach mal einen Punkt. Für mich hat der Punkt die Kraft eines Neubeginns. Aus dieser Kraft des Neubeginns ist das Album entstanden. Der Punkt ist der Neubeginn in seinem Superlativ." Die beiden gemeinsam mit dem Babelsberger Filmorchester für April geplanten Konzerte in Köln und Berlin mussten leider ausfallen. An neuen Terminen wird gearbeitet. In der Zwischenzeit führt jeder gut sortierte Schallplattenladen oder Onlineshop auch noch die Deluxe-Edition von "Punkt." im opulenten Buchformat, inklusive einer umfangreichen Fotostrecke.
Bernd Gürtler SAX 6/20
Balbina
"Punkt"
(BMG; 10.1.2020)
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