Euer Debütalbum, kurz "Engerling" betitelt, eröffnet mit "Sechs Tage auf dem Rad" sowie "Schwester Bessies Boogie", zwei Songs, die deine beiden Leidenschaften betreffen und sogar in korrekter Reihenfolge angeordnet sind. Bevor du dich dem Blues zuwendest, bist du begeisterter Radsportler gewesen. Wie kam das?
Jeder in der DDR kannte Täve Schur, den zweifachen Radrennweltmeister und Gewinner der Friedensfahrt. Er war unser Held, und wir Jungs wollten unbedingt auch ein Rennrad. Was sich als schwierig erwies, Rennräder kosteten sechshundert DDR-Mark. Mein Vater meinte, das musst du dir selbst verdienen. Mit dreizehn fing ich an, sonntags Zeitungen auszutragen. Bei zwanzig Mark die Woche kam einiges zusammen. Den Rest gab mir mein Vater dazu und mit fünfzehn konnte ich mir das Rennrad kaufen. Ich wurde Mitglied bei BSG Traktor Wriezen im Oderbruch, als Jugendlicher bin ich regelmäßig Radrennen gefahren. Mit sechzehn ist es aber auch mit dem Musikmachen losgegangen. Wir hatten eine Dorfband bei uns in Bad Freienwalde, wo ich geboren bin. Irgendwann hat sich das gebissen, Samstag Auftritte und Sonntagvormittag Radrennen. Also gab ich den Radsport auf, aber die Leidenschaft ist geblieben.
Das Musikmachen war ganz zu Anfang sicherlich noch nicht von deiner Bluesbegeisterung geprägt, oder?
Nein, wir hörten die Hitparaden des Westradios und spielten nach, was dort lief. Aber Blues wurde sehr bald wichtig. Mein Cousin aus dem Westen schickte mir eine Seite aus der Bravo und dort hieß es über die Rolling Stones "Fünf mit dem Blues", und der Stilbegriff war mir vertraut. Ich kannte die erste Schallplatte des American Folk Blues Festivals, die bei Amiga erschienen war, mit Willie Dixon und Hubert Sumlin. Ich hatte das Buch "Blues & Trouble" des Chemnitzer Pfarrers Theo Lehmann gelesen. Ich wusste einiges, und langsam ging mir auf, dass Blues die Mutter des Rock ist.
Das dritte Stück auf Engerlings Debütalbum heißt "Gleichschritt" und handelt davon, dass Gleichschritt jede Beziehung zerstört, ebenso wie es jede Brücke zum Einsturz bringt. Aber wir reden hier über die späten siebziger Jahre, sprich tiefste DDR, der Wendeherbst noch nicht ansatzweise absehbar. Ideologisch galt nach wie vor Gleichschritt als erste Bürgerpflicht. Wie kam euer Songtext durch die Zensurinstanzen bei Hörfunk und Schallplattenlabel?
Ich war auch überrascht. Hintergedanken hatte ich keine beim Schreiben, aber interessant, was im Nachhinein hineingedeutet wurde. Mir war das natürlich nicht unrecht.
Von ähnlicher Brisanz das zuvor auf Single veröffentlichte "Da hilft kein Jammern". Oberflächlich betrachtet auch ein Song über Beziehungsangelegenheiten, aber im Refrain heißt es jedes Mal "Da hilft kein Jammern, da hilft nur fortzugehen".
In der Rückschau hätte das der Song zum Wendeherbst 1989 sein können, stattdessen wurde es "Wind Of Change" von den Scorpions. "Nichts ist unendlich" von Dirk Michaelis gilt ebenfalls als Wendeherbstsong. Was die Zensurinstanzen dachten? Ich weiß es nicht. Eingegriffen wurde auf unserem Debütalbum nur dort, wo es um Alkohol geht. Wie im "Moll-Blues" an der Textstelle "Dann schnürt es ihm die Kehle zu/Und die Medizin steht schon bereit". Ursprünglich schloss sich die Zeile "Besser den Flachmann in der Hand, als den Kübel Sekt auf dem Dach" dort an. Das durfte nicht sein. Eingespielt wurde der "Moll-Blues" live, also nicht erst die Instrumente und nachträglich der Gesang. In der Passage, in der besagter Nachsatz kam, war plötzlich ein Fehler auf der Hi-Hat des Schlagzeugs zu hören und die Orgel wurde hochgezogen, was das Rauschhafte bloß noch unterstreicht.
Engerlings zweites Album "Tagtraum" verrät zweifelsfrei Einflüsse psychedelischer Spielweisen. Worauf ging das zurück?
Es muss Ende 1979 gewesen sein, als ich mir erstmalig ein Album von Pink Floyd zulegte, auf dem Schwarzmarkt, für einhundertzwanzig Ostmark. Das Album hieß "Relics" und war eine Zusammenstellung der Anfangsjahre. "Arnold Layne" und "See Emily Play" kannte ich bereits aus dem Radio. Manches davon ist bei Engerling eingeflossen. Blues und psychedelische Elemente schließen sich nicht aus, siehe Fleetwood Macs "The Green Manalishi", das wir von Anbeginn als Coverversion im Programm hatten.
Das "Muschellied", der Eröffnungssong zu "Tagtraum", berührt ein Phänomen, das in der DDR von offizieller Seite ebenfalls unter dem Deckel gehalten wurde. Der Song thematisiert häusliche Gewalt.
Stimmt. Olaf Leitner vom RIAS in Westberlin interessierte sich für DDR-Rock, war öfters in Ostberlin und spielte das "Muschellied" in seiner Sendung. Er fand, dass der Song ostdeutsche Befindlichkeiten perfekt einfängt. Ich erinnere mich bloß noch, dass ich damals frisch verliebt war. Wobei meine neue Lebensgefährtin nicht als Inspiration für die weibliche Songfigur diente. Lediglich das grüne Sofa, das Erwähnung findet, gab es wirklich.
Eine Besonderheit des DDR-Rock war, dass die Songtexte in der Regel von externen Songtextschreibern verfasst wurden, selten von den Bands selbst. Anders bei Engerling, du durftest dir eigene Songtexte schreiben. Wie erklärst du dir das?
Vermutlich ein Resultat unserer Teilnahme an der Tanzmusikwerkstatt in Suhl. Zum Angebot standen verschiedene Arbeitsgruppen, darunter eine für Songtexter, geleitet von Kurt Demmler, einem der populärsten Songtextschreiber der DDR. Zum Einstieg las er Texte von mir vor, den "Blues vom roten Hahn" und "Gleichschritt". Oder "Da hilft kein Jammern"? Ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls war ich auf ein Donnerwetter gefasst, aber Kurt Demmler meinte, das sind richtig gute Texte! Was einem Ritterschlag gleichkam. Ich denke, die Kontrollinstanzen dachten sich von da an, lasst den machen.
Kurt Demmler lag mit seiner Einschätzung gar nicht so verkehrt, deine Songtexte sind richtig gut, weil direkt aus dem Alltag gegriffen. "Knüppel aus dem Sack" zum Beispiel lässt die Ostberliner Hinterhofmilieus lebendig werden. Du erwähnst Fuhrmeister Schimmel, Trude Zaremba, Maler Ludwig, Schwager Detlef, Sackhüpfer Martin. Hatten die Figuren reale Vorbilder?
Nicht unbedingt. Ich bin mal von einem jungen Musikwissenschaftler angesprochen worden, der sich für DDR-Rock interessiert. Er meinte, der "Moll-Blues", ihr seid damals um die fünfundzwanzig gewesen, wie konntet ihr so einen Song über Alkoholismus schreiben? Meine Antwort war, es wurde viel gelesen in der DDR. Die einen rannten in die Schallplattenläden, um begehrte Lizenzpressungen zu ergattern. Andere schauten im Buchhandel nach lohnender Lektüre. Daher kam das.
Euer drittes Album "So Oder So" wirkt vom Sound her regelrecht modebewusst, eher am zeitgenössischen Pop orientiert als am Blues.
Das Tonstudio des DDR-Rundfunks, wo "So oder so" eingespielt wurde, war auf den neuesten Stand gebracht worden, vergleichbar mit Weststudios. Die Tontechniker probierten aus, was ihnen zur Verfügung stand. Von Reinhard Lakomy, der in den Westen fahren durfte, hatte ich mir außerdem ein neues Keyboard mitbringen lassen. Ein DX7 von Yamaha, davon ist die Klangcharakteristik geprägt. Mein Wurlitzer-Klavier, das bei "Tagtraum" und "Engerling" zum Einsatz kam, musste ich ausrangieren. Durch das ständige Touren sind Zungen abgebrochen, und die Ersatzteilbeschaffung war von Ostdeutschland aus ein Problem. Ganz glücklich war ich mit dem Instrument auch nicht, aber ich konnte Konzerte bestreiten, ohne fürchten zu müssen, dass mein Keyboard ausfällt.
Welche Geschichte verbirgt sich hinter "Narkoseblues", dem fulminanten Schlusspunkt von "So oder so"?
Ich hatte den Radsport als Hobby weiterbetrieben, und zum zweiten Geburtstag meines Sohnes Johannes meinte meine Frau, bevor ich bei den Vorbereitungen der Geburtstagsfeier im Weg rumstehe, sollte ich besser eine Radtour machen, mit einem meiner Freunde. Wir sind fünfzig Kilometer gefahren, und vor der Zufahrt zu Erich Honeckers Wandlitz wurde die Straße vierspurig. Ich war dreiunddreißig und gut in Form, mein Freund weniger. Schon an seinem Limit, berührte es mit seinem Vorderrad mein Hinterrad. Ich hörte ein kurzes Geräusch, wie wenn Reifen auf Reifen treffen. Mein Freund fiel nach links und wurde von einem Auto überfahren, das uns überholte. Er kam ins Krankenhaus, auf die Intensivstation, und starb nach einer Woche. Mich hat der Unfall noch Jahre verfolgt, in meinen Träumen, im Alltag.
Nach der Wende sind von Engerling nur noch zwei Studioalben erschienen, "Egoland" und "Komm vor". Ansonsten Mitschnitte von Jubiläumskonzerten mit Songs aus dem Backkatalog und Coverversionen. Warum nichts Neues mehr?
"Egoland" und "Komm vor" enthalten mit "Es kommen andere Zeiten", "Narzisse", "Schwarze Polster", "Herbstlied" oder "Zinker" Kommentare zum Wendeherbst beziehungsweise der Zeit danach. Damit war alles gesagt. Außerdem sind wir dreißig Jahre Mitch Ryders Tourband in Europa gewesen und haben Albumeinspielungen auch mit ihm absolviert. Wir hatten gut zu tun.
Stichwort Mitch Ryder, wie bewertest du, dass er sich kürzlich von euch getrennt hat, obwohl euer letztes gemeinsames Album, die Konzertscheibe "Roofs On Fire", auf Platz drei der amerikanischen Billboard-Bluescharts kam.
Es war absehbar, keiner von uns ist jünger geworden.
Bernd Gürtler/TM
Engerling
"Engerling + Tagtraum"
(Sechzehnzehn; 28.3.25/Doppel-LP)
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18.10.25 Berlin, Kesselhaus
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25.10.25 Magdeburg, Feuerwache
31.10.25 Erfurt, Museumskeller
01.11.25 Hoyerswerda, Kulturfabrik
06.11.25 Neubrandenburg, Marstall
07.11.25 Brachwitz, Saalekietz
08.11.25 Frohburg, Schützenhaus
14.11.25 Potsdam, Lindenpark
27.11.25 Arnstadt, Prinzenhof
29.11.25 Neustadt/Orla, Wotufa
06.12.25 Medingen Gasthof
19.12.25 Leipzig, Moritzbastei
20.12.25 Schöneiche, Kulturgießerei