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Unfreiwilliges Selbstporträt: Bob Dylan und "Die Philosophie des modernen Songs"

Bob Dylan ist ein Folkbarde oder? Jedes halbwegs seriöse Lexikon der angloamerikanischen Populärmusik vermerkt etwas in der Art und nennt Woody Guthrie als wichtigstes Vorbild. Keine grundverkehrte Einschätzung, ganz im Gegenteil. Seltsam bloß, dass sein "Die Philosophie des modernen Songs" lediglich einen namentlichen Querverweis auf den Folkvorreiter enthält, sich aber keiner einzigen seiner Songkreationen widmet, obwohl die Essaysammlung laut Presseinfo des Buchverlags sechzig Stücke betrifft, von denen der Künstler beeindruckt und geprägt sei.

Der Folk kam erst später dazu und erschien im Unterschied zum Rock'n'Roll substanzieller. "I knew that when I got into folk music, it was more of a serious type of thing", zitiert ihn der Booklettext zum Werkschauboxset "Biograph".

Einhergegangen mit der stilistischen Neuausrichtung die Namensänderung vom bürgerlichen Robert Zimmerman in Bob Dylan. Gleich mit in Umlauf gebracht die fiktive Biographieerzählung vom Landstreicherluftikus, der er nie war.

Medien und seine wachsende Fangemeinde sind damals so sehr damit beschäftigt gewesen herauszufinden, was den Tatsachen entsprach und was nicht, dass gar keine Kapazitäten zur Verfügung standen, seine Vorgeschichte genauer in Augenschein zu nehmen.

Begonnen hatte er nämlich selbst als Rock'n'Roller. Bei den Golden Chords, seiner High-School-Band zuhause in Hibbing, Minnesota, standen Coverversionen von Little Richard und Elvis Presley auf der Setlist. Mit "Tutti Frutti" und "Long Tall Sally" beziehungsweise "Money Honey" und "Viva Las Vegas" huldigt "Die Philosophie des modernen Songs" zwei seiner Idole der Vorfolkära.

Darüber hinaus finden sich Betrachtungen zu Songs von Roy Orbison und Carl Perkins oder Perry Como, Bing Crosby und Frank Sinatra; dass letzte drei ebenfalls seinen Respekt genießen und willkommene Inspirationsquellen abgeben, verraten unzweideutig die jüngeren Albumveröffentlichungen "Shadows In The Night", "Fallen Angels" und "Triplicate" mit ihren Coverversionen aus dem Great American Songbook.

Im Buch außerdem berücksichtigt eine Vielzahl von Countryklassikern, einige Soulsongs und Rockstücke aus Zeiten als Bob Dylan längst wieder zum Rock zurückgekehrt war.

Verblüffend in jedem Fall der Kenntnisreichtum. Zum "CIA Man" der The Fugs wird korrekt angemerkt, dass der Bandname auf Norman Mailers Roman "Die Nackten und die Toten" zurückgeht. Seine Erörterung eröffnet Bob Dylan mit der Bemerkung, dass Sam Phillips den Song gewiss gemocht hätte und lässt seinen Text um eine Fotografie von Fidel Castro ergänzen, wohl wissend natürlich, dass die CIA ein Mordkomplott nach dem nächsten gegen den kubanischen Revolutionsführer schmiedete und selbiger der Legende nach im Gründer von Sun Records einen glühenden Verehrer hatte.

Grateful Deads "Truckin'" wiederum wird verknüpft mit "The Soft Machine", dem weltbekannten Drogenroman von William Burroughs.

Aber warum diese Mühe? Weil sein in den Danksagungen an erster Stelle genannter Anglerfreud Eddie Gorodetsky, Produzentenmastermind hinter US-Fernsehserien wie "The Big Bang Theory", fand, wenn schon mit einem Nobelpreis in Literatur dekoriert, könnte Bob Dylan nach "Tarantula" und "Chronicles: Volume One" ein weiteres Buch verfassen?

Uneingelöst jedenfalls bleibt das Versprechen einer Philosophie im engeren Wortsinn, einer Beschreibung von Wesensmerkmalen, die erkennen lassen, was beispielsweise Hank Williams und dessen "Your Cheatin' Heart" von Elvis Costellos "Pump It Up" oder "London Calling" von The Clash aufgrund welcher jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen unterschiedet oder miteinander verbindet.

Aber was ist es dann, wenn nicht das, was der Buchtitel verheißt? Ein Heurekamoment ergibt sich gegen Ende des ersten Drittels bei Willie Nelsons "On The Road Again". Nach seiner sachkundigen Beschreibung der Innenausstattung eines modernen Tourbuses, seinem Abwägen der Freuden und Ärgernisse des Tourlebens, da dämmert es dem Leser, Bob Dylan schreibt über sich, "Die Philosophie des modernen Songs" ist ein unfreiwilliges Selbstporträt!

Der Eindruck verdichtet sich bei Johnny Taylors "Cheaper To Keep Her", das Gelegenheit bietet, sich über Scheidungskriege und die unrühmliche Rolle von Scheidungsanwälten auszulassen. Im Zusammenhang mit dem "Ball Of Confusion" der Temptations oder Edwin Starrs "War" erfahren wir manches über seine Gedanken zum Zustand der Welt, wie sie sich aktuell präsentiert.

Ein ungemein offenherziges Buch für jemanden, der keine Mühe scheut, seine Spuren zu verwischen, seine Anstrengungen sogar noch intensiviert hat, seit er wegen eigener Songklassiker wie "Blowin' In The Wind" oder "The Times They Are A Changin'" zur Stimme einer Generation ausgerufen wurde. Aber keine Sorge, neue falsche Fährten sind gelegt. Auf dem Bucheinband der englischen Originalausgabe abgebildet nicht er selbst sondern eine Fotografie, die die seinerzeit zum weiblichen Elvis Presley ausgerufene Alis Lesley zeigt, flankiert von Little Richard und Eddie Cochran. Das Verlagshaus der deutschen Übersetzung war weniger mutig. Dort verwendet ein Lichtbildnis des betagten Bob Dylan, wegen der sicherlich nicht ganz unzutreffenden Vermutung, dass sich die Käuferschaft hierzulande ungefähr in derselben Altersgruppe bewegen dürfte.
Bernd Gürtler SAX 2/23


Bob Dylan: "Die Philosophie des modernen Songs" (C.H. Beck; 2.11.2022)


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Foto: William Claxton
Foto: Simon & Schuster

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