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Chansonier Tristan Brusch: Unschärfe in der Songkunst

Mit "Am Wahn" vom Frühjahr 2023 gelingt Tristan Brusch ein echtes Bravourstück. Das Album fällt aus dem Rahmen, bricht mit eigenen Gewohnheiten. Ist sein fünf Jahre zuvor veröffentlichtes "Das Paradies" noch teils mainstreamrockiger, teils elektropoppiger angelegt gewesen, geht es inzwischen deutlich Richtung Chanson. Oder Neo-Chanson? Eine Interviewverabredung mit dem gebürtigen Tübinger und Wahlberliner ergab, welche Stilbezeichnung am ehesten passend wäre. Geklärt jetzt auch, weshalb ihm laut Presseinfo des Schallplattenlabels an Unschärfe in der Songkunst gelegen ist.

Woher dein Bedürfnis nach Unschärfe?
Musik, die mich berührt, lässt meist Raum für eigene Gedanken. Wird es einem auf dem Silbertablett serviert, rutscht das leicht in die Gebrauchsmusik. Das ist dann als würde man sagen, ich treibe Sport und rufe die Sport-Playlist auf oder ich möchte chillen und lasse die Chill-Playlist laufen. Meine Musik ist anders, meine Musik stört beim Nebenbeihören. Wer sich hinsetzen und auf eine Reise begeben will, kommt eher auf seine Kosten.

Die Arrangements deiner Songs jedenfalls sind außerordentlich intensiv und diesmal anders als bei bestimmten Vorgängeralben.
Konzertauftritte bestreite ich allein oder in einem kammermusikalischen Rahmen mit Bassklarinette und Tenorsaxophon, manchmal mit Altsaxophon und zusätzlich Akkordeon, meistens aber nicht in der typischen Rockbesetzung aus Gitarre, Bass, Schlagzeug. Meine Songtexte sind raumgreifend, meine Musik kein körperliches Erlebnis, man wird nicht zum Tanzen aufgefordert oder durch schiere Lautstärke beeindruckt. Meine Auftritte erinnern mehr an Klassikkonzerte oder Jazzdarbietungen. Aber bei "Am Wahn" ließ ich meinem Produzenten Tim Tautorat freie Hand und er meinte, okay, dann lass uns aus den Songs opulente Chansons machen. Wir lieben beide Serge Gainsbourg, Jaques Brel. Daran haben wir uns orientiert. Auf Deutsch wirkt das bloß anders, es kratzt am Schlager. Was ich aber interessant finde, weil der Schlager mitunter auch so eine transzendente Allgemeingültigkeit hat, die einer Musik, die cool sein will, oft fehlt.

An welchen Schlager denkst du zum Beispiel?
An Omega beziehungsweise Frank Schöbel, der einen Song der ungarischen Rockband eingedeutscht hat und bei ihm "Schreib es mir in den Sand" heißt. Das spricht mich direkt an, diese unfassbare Melodie, die einfachen Worte, die so viel und gleichzeitig gar nichts sagen. Ich meine, schreib es mir in den Sand? Große Worte, die kitschig klingen und vieles offen lassen.

Würdest du sagen, heutzutage sind Schlager weniger gehaltvoll als früher?
Gut möglich und wenn, dann wegen der Streamingdienste, die sehr stark in Playlists kuratiert sind. Heute wird speziell für Playlists geschrieben, um dort reinzukommen. Das hat Einfluss auf die Form. Ein Song muss schnell auf den Punkt kommen, damit nicht vorzeitig weggeklickt wird. Die Aufmerksamkeitsspanne des jüngeren Publikums hält sich in Grenzen, was ich ganz wertfrei sage. Das Format Album ist nichts Gottgegebenes sondern war entstanden durch die Spielzeitlängen, die vinyle Langspielplatten plötzlich boten. Eine wunderbare Kunstform, die sich möglicherweise überlebt hat. Nicht für mich, Streamingformate interessiert mich nicht, obwohl mein Bankkonto sagt, dass das ein Fehler ist.

Streamingdiensten fehlt das gesamte Drumherum, die Erzählungen, wovon die Songs handeln, wie sie entstanden sind, wer der Künstler ist. Es gibt keine Einordnung, keine professionelle Vermittlung, von der Begeisterung überspringt. In der Regel sind nicht mal die Bandbesetzungen genannt, Songtexte schon gar nicht.
Die Musik wird nicht gefeiert, stimmt, und man bekommt nichts Physisches in die Hand, das eine Welt repräsentiert. Sicherlich kann man sich auch über Internetrecherchen Hintergrund verschaffen, aber es ist nicht dasselbe. Daniel Ek, der Gründer von Spotify, sagt, dass Künstler, die in Jahresabständen ein Album veröffentlichen, es in Zukunft schwer haben werden. Streaming zielt darauf ab, dass möglichst alle paar Wochen eine Single erscheint, die dann in irgendwelche Playlists kommt oder eben nicht. Dadurch wird die Musik entwertet, wird zum Gebrauchsgegenstand. Es wird schnell etwas reingespült, aber genauso schnell wieder weggespült. Eine innige Beziehung entsteht, wenn sich Spannungsbögen entfalten dürfen und nicht in den ersten dreißig Sekunden alles gesagt sein muss, damit die Songs auch in irgendwelchen TikTok-Videos funktionieren.

Wie würdest du deine eigene Musik bezeichnen? Als Chanson?
Besser Neo-Chanson, obwohl das Wort Chanson einen Kleinkunstcharakter verleiht, was nicht unbedingt von Vorteil ist. Aber wie heißt es? Irgendeinen Tod muss man sterben.

Der Diskursrock aus den Neunzigern wäre nicht dein Ding?
Nein, wenn mir das vorgespielt wird, verstehe ich, dass das cool ist, aber es spricht mich nicht an. Was sicher auch daran liegt, dass ich mit klassischer Musik aufgewachsen bin und es dort viel Raum für Unschärfe, für Interpretationen gibt.

Deine Eltern sind beide klassische Musiker gewesen.
Mein Vater, er spielt Geige, ist immer noch Musiker, meine Mutter nicht mehr. Sie war Pianistin, bis sie von unserem Hund in den Finger gebissen wurde. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich auf Tour im Wohnwagen. Meine Eltern sind komplett verrückt gewesen, sie gaben Konzerte und stellten mich in einer Babyschale neben die Bühne, in der Hoffnung, dass ich während des Konzerts still bleibe. Das hat geklappt, aber es war anstrengend für meine Eltern. Üblicherweise wurde nach den Auftritten beim Veranstalter noch etwas getrunken, um Kontaktpflege zu betreiben. Dann ging es ins Bett und um vier Uhr morgens weiter zum nächsten Auftritt.

Eine ungewöhnliche Kindheit, kann nicht jeder von sich behaupten.
Stimmt, meine Mutter spielte neben Piano auch Cembalo, das vor jedem Auftritt gestimmt werden musste, weil es ein Instrument ist, das sich schlimmer verstimmt als jede Gitarre. Mit dem Unterschied, dass sich eine Gitarre innerhalb von Minuten stimmen lässt, für ein Cembalo braucht es Stunden. Klassische Musiker müssen auch unglaublich viel üben, das Material ist anspruchsvoll. Aber dadurch wurde mir eine andere Dimension von Zeit nahegebracht. Als meine Mutter Schuberts "Winterreise" einstudierte, hat das gedauert und die Musik war von einer Schönheit, dass ich es kaum aushielt. Ich konnte mich darauf einlassen oder eine gewisse Resilienz entwickeln. Das ist etwas anderes als Musik nebenher im Radio laufen zu haben.

Wie spricht sich dein Familienname korrekt?
Mit einem langen U, Bruuusch. Dazu gibt es eine Geschichte. Mein Großonkel ließ Ahnenforschung betreiben und fand heraus, dass es einen Hackbarth Brusch gab, der ein Spießgeselle von Klaus Störtebeker war. Anscheinend wurde er auf dem Grasbrook in Hamburg einen Kopf kürzer gemacht. Ich habe vermutlich Piratenblut in meinen Adern.

Die Unschärfe, die du in deinen Songs erreichen willst, ist mitunter gar nicht unscharf. Wenn es um Liebe und Sex geht, wird es oft sogar explizit. Oder die Abiturientin aus gutem Hause in "Oh, Lord", der von Papa ein Auslandseinsatz in Afrika gesponsert wird, um die Welt zu retten. Was war die Inspiration?
Abitur habe ich in Tübingen gemacht und in meiner Schulklasse fühlten sich einige zum Weltretter berufen. Manche sind nach dem Abi tatsächlich nach Afrika gegangen. Das mag mal anders gewesen sein, dass man in Afrika vielleicht in einer Missionsschule Englischunterricht gab. Inzwischen ist das eine regelrechte Industrie geworden, wenn junge, blonde Europäerinnen hinkommen und sich ein gutes Gewissen verschaffen dürfen. Es wird dann eine Vermittlungsgebühr fällig. In Wahrheit werden die jungen Frauen vor Ort gar nicht gebraucht, wegen des Geldes, das Mama oder Papa zahlen, aber eben doch. Das finde ich ziemlich aberwitzig. Auch wenn die Absichten gut sind, ist das auf eine bestimmte Art völlig verquer. Die erste Zeile in "Oh, Lord" handelt von einem Typen, der nach einem Bordellbesuch eine schlechte Kritik schreibt über eine Prostituierte, die er gerade gevögelt hat. Für das Albumcover wollte ich mich eigentlich mit einer echten Prostituierten auf dem Bett sitzend fotografieren lassen. Aber keine der Frauen, die ich anschrieb, ließ sich überreden. Durch meine Coveridee bin ich auf Internetforen gestoßen, wo sogenannte Fickberichte geschrieben werden, sich vermerkt findet, wie die Kommunikation mit der Dienstleisterin im Vorfeld ablief, wie der Akt selbst war, was es gekostet hat, ob man es wiederholen würde. Unfassbar! "Oh, Lord" ist ein Song darüber, wie bekloppt Menschen sein können. Ich will aber auf niemanden mit dem Finger zeigen, von wegen, ihr bösen, bösen Buben. Sondern dort, wo es Menschelt, wo die Menschen sich zeigen, wie sie eben sind, dort interessiert es mich.
Bernd Gürtler SAX 1/24


Tristan Brusch
"Am Wahn"
(24.3.23; Tautorat)


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Foto: Rebecca Krämer
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