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Schreiben heißt sich selber lesen: Enno Bunger über sein Album "Der beste Verlierer"

Das Vorgängeralbum war von derart anrührender Poesie, dass sich die Frage aufdrängte, wie wohl eine Fortschreibung dieser Erzählung aussehen könnte. Inzwischen ist ein mehr als respektabler Nachfolger vollbracht, nach derselben, dem Schriftstellerkollegen Max Frisch geschuldeten Methode, mit dem Unterschied, dass der Blick nicht mehr nur nach innen sondern auch nach außen gerichtet wird. Enno Bunger selbst befand anlässlich eines Interviewtermins in Berlin, bei der Bewältigung von Tod und Krankheit mit "Was berührt, das bleibt" von 2019 seien die anderen die Patienten gewesen, jetzt bei "Der beste Verlierer" sind er es und die Gesellschaft.

Wovon ist das Album vorrangig geprägt? Noch von Corona und den pandemiebedingten Lockdowns? Russlands Krieg gegen die Ukraine? Dem, was der Nahostkonflikt soeben wieder an Grausamkeiten hervorbringt oder der offensichtlichen Unfähigkeit der Menschheit, den Klimawandel entschlossen anzupacken?
Oben an steht für mich die dringlichste Krise von allen, denn wenn wir den Klimawandel nicht bewältigen, sind Kriege auch egal. Dann ist alles verloren. Gleichzeitig entstand "Der beste Verlierer" unter dem Eindruck der Vielschichtigkeit gesellschaftlicher und persönlicher Krisen im Moment. Ich wollte aber auch Perspektiven aufzeigen, nicht zynisch oder pessimistisch sein.

"Es gibt keinen Grund zu feiern, aber niemand hindert mich daran", heißt es entsprechend dann im Eröffnungssong "Weltuntergang (Alles hört auf)".
Die Stimmung ist ein bisschen beides. Wir sind geneigt, die Augen zu verschließen. Jeder Einzelne, die gesamte Gesellschaft fühlt sich gerade sehr überfordert. Sonst würde anders gehandelt und auf Lösungsansätze zugegriffen, die bereits existieren. Wie lächerlich ist es, dass ein Verkehrsministerium sagt, wir können kein Tempolimit auf Autobahnen einführen, wir haben nicht genügend Verkehrsschilder! Sicher wäre das nur ein kleiner Bereich, aber irgendwo muss man beginnen. Man kann wegschauen, ich schaue auch oft weg. Aber manchmal schaue ich genau hin und dann drängt es mich, meinem Unmut Luft zu verschaffen.

Der Weltuntergang wurde schon häufiger vorhergesagt. Was ist in den Zweitausenderjahren anders.
Dass diejenigen, die einen Weltuntergang prophezeien, unter den Verschwörungstheoretikern zu suchen wären, die irgendetwas behaupten, sei es aus religiösen oder anderen machtpolitischen Motiven. Der Klimawandel ist real und heute durch wissenschaftliche Studien belegt. Vielleicht sind wir erst in zehn Jahren richtig betroffen, aber es besteht Handlungsbedarf. Gerade in Regionen wie Niedersachsen, wo ich herkomme. Hochwasserereignisse wie Anfang 2024 werden zunehmen. In "Grasgelb" singe ich, dass wir das siebte Jahr in Folge das heißeste Jahr hatten. Geschrieben wurde der Song 2021/22, inzwischen müsste ich mir einen Reim auf die Neun ausdenken, weil es mittlerweile neun Jahre in Folge sind. Eine bekannte Tatsache eigentlich, aber es gibt so viele belanglose Lieder über die Liebe und nur wenige zur Gesundheit unseres Planeten, dass ich unbedingt eins schreiben wollte.

Wenn du dich äußerst, entsteht nie der Eindruck, dass du bloß einem Trend nachläufst. Deine Besorgnis scheint echt zu sein.
Absolut, ich schreibe immer über Dinge, die mich zutiefst bewegen. Ich will immer rein in die Verletzung, rein in den Schmerz und dafür die richtigen Worte finden. Niemand kann sich selbst therapieren, aber nach meiner Erfahrung ist es hilfreich, die Auseinandersetzung zu suchen und in persönliche wie gesellschaftliche Niederlagen reinzugehen. Deshalb heißt es in "Bunker", dass ich der beste Verlierer sein möchte. Daher der Albumtitel.

Das gesamte Album vollführt eine Gratwanderung zwischen Trübsinn und Heiterkeit, um gleichzeitig eine Reise in die tiefste Finsternis und wieder zurück ins Licht zu unternehmen. Der dunkelste Moment liegt bei zwei Songs in der Albummitte. Einer der beiden heißt "Ich sehe was, was du nicht siehst" und handelt von Depressionen. Der Songtitel bringt die Thematik perfekt auf den Punkt. In den seltensten Fällen ist jemandem eine Depression anzusehen. Was würdest du empfehlen, offen damit umgehen oder sich doch besser bedeckt halten?
Ich persönlich habe mich zum offenen Umgang entschlossen. Davor hatte ich auch schon einen Song über Depressionen geschrieben, aber nicht dazugesagt, dass es um mich geht. Das wollte ich nachholen, ausgelöst dadurch, dass andere öffentliche Personen mit gutem Beispiel vorangehen und auch, um mich selbst zu motivieren, das Thema ernster zu nehmen. Immer wieder konfrontiert damit, wenn ich darüber singe oder Interviews gebe, erinnert es mich, dass ich selbst noch etwas aufzuarbeiten habe. Die Rückmeldungen besonders zu "Ich sehe was, was du nicht siehst" sind überwältigend. Ich teile das bisher noch nicht öffentlich, weil ich finde, dass das etwas sehr Privates ist. Aber mich erreichen unglaubliche Nachrichten von Menschen, die gerade in Behandlung sind oder Menschen verloren haben. Das ist sehr intensiv, aber auch ermutigend. Ich frage mich häufig, ob es gut war, Kulturschaffender zu werden, oder ich besser einer anderen Aufgabe nachgehen sollte, durch die ich gesamtgesellschaftlich nützlich sein könnte. Aber wenn ich über solche Themen mit dem Publikum in Austausch trete, denke ich, dass es vielleicht richtig ist, was ich tue.

Was hilft bei Depressionen?
Eine Therapie, sich geschultem Fachpersonal anvertrauen. Und eben darüber reden, mit der Familie, mit Freunden. Wir stellen uns in unserer Kultur gegenseitig viel zu sehr unter Welpenschutz, sobald es um mentale Gesundheit geht.

Simon & Garfunkels "I Am A Rock" enthält die wunderbare Textzeile "I have my books/And my poetry to protect me/I am shielded in my armor", was sich so lesen lässt, dass Kreativität auch ein probates Mittel gegen Depressionen sein könnte.
Auf jeden Fall, egal ob sich jemand für talentiert hält oder nicht, einfach sich hinsetzen und schreiben. Ganz oft kommt etwas dabei heraus, von dem man gar nicht wusste, dass man das denkt. Max Frisch hat mal gesagt, schreiben heißt sich selber lesen. Es hilft, in sich hinein zu lauschen, sich zu sortieren. Darüber hinaus war es bei mir so, dass ich schon als Kind Klavier spielte, das Instrument war mein Kummerkasten.

Auf "Ich sehe was, was du nicht siehst" lässt du "Heute nicht" folgen, über einen Selbstmordversuch, zum Glück abgebrochen.
Selbstmord ist keine Option.

Nein, überhaupt nicht!
Der Tod ist nicht wirklich das, wonach Selbstmörder sich sehnen sondern der Schmerz, von dem sie sich überwältigt fühlen, soll endlich aufhören. "Heute nicht" ist ebenfalls autobiographisch und handelt von einem Tag in meiner Jugend. Ich hatte lange verdrängt, dass es diesen Tag gab, als ich zerstört am Boden lag. Das Schöne war, dass das der Urknall war, der mich entscheiden ließ, ab sofort vertraue ich mir selbst und nehme in Angriff, was ich immer schon machen wollte.

Also dem Kummerkasten Klavier beruflich eine Chance zu geben?
Genau. Weniger schön ist, dass ich, seit ich hauptberuflich Musiker bin, gar nicht mehr so oft zum Klavierspielen komme. Ich bin heute mehr damit beschäftigt, meine Musik zu vermarkten. Ich schreibe die Songs, dann geht es in die Produktion, anschließend in die Promotion, ich gebe Interviews, ich reise herum. Eigentlich stehe ich gar nicht so gern in der Öffentlichkeit.

Nach dem Frontcover von "Der beste Verlierer" zu urteilen, steht diesmal eher Pudeldame Emma in der Öffentlichkeit, dein Hund.
Naja, ich selbst bin nicht gemacht für diese Zeit. Ständig wird von einem verlangt, sein Gesicht in die Kamera zu halten und irgendwas zu erzählen. Ich bin kein Selfietyp, kein Videoblogger. Ich kommuniziere über den Text und poste etwas, früher bei Twitter, heute bei Bluesky oder Threads. Ich möchte das Publikum über meine Musik erreichen, das ist mein Beruf. Ich stehe auch gern auf der Bühne. Wenn ich vor die Kamera soll, dann nur, wenn es unbedingt sein muss. Ansonsten stelle ich mittlerweile meinen Hund ins Internet, was viel eher auf positive Reaktionen stößt, als wenn ich mich zeige.

Der beste Verlierer" enthält mit "Kein Mensch startet einen Krieg" und "Kinder" Songs zur Ukraine beziehungsweise jungen Menschen, die sich fragen, ob sie überhaupt noch Kinder in die Welt setzen sollten. Zu Ende geht es mit "Häuserzeilen", unterteilt in drei Abschnitte. Weshalb die Unterteilung?
Das ist mein Umgang mit dem Streaming. Meine Songs sind durchschnittlich länger, abgerechnet wird ab dreißig Sekunden. Das bedeutet, werden Songs von einer Minute Länge zehn Mal gestreamt, gibt es einen bestimmten Minimalbetrag pro Stream. Werden Songs von zehn Minuten Länge zehn Mal gestreamt, gibt es denselben Minimalbetrag. Weil mein Publikum meine Alben in der Regel durchgängig hört und ich sehr viel Liebe zum Detail aufwende, muss ich versuchen, dass die Mühe auch monitär etwas abwirft.
Bernd Gürtler SAX 3/24


Enno Bunger
"Der beste Verlierer"
(PIAS; 19.1.24)


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Foto: Jan Seebeck
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