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Geoff Muldaur: Uralt Blues neu erzählt

Gestartet ist Geoff Muldaur vor dem Hintergrund des amerikanischen Folkrevivals als Mitglied der Jim Kweskin Jug Band. Bis Ende der sechziger Jahre blieb die Formation bestehen, im Anschluss heiratet er die Sängerin der Jug Band, als Geoff & Maria Muldaur veröffentlichen die beiden zwei Duoalben. Kaum erscheint das zweite Duoalbum, trennen sich auch ihre Wege. Geoff Muldaur wird noch Mitglied der Bluesband von Paul Butterfield, bevor er sich als Soloartist selbständig macht. Sein bislang ambitioniertestes Soloalbum heißt "His Last Letter" (Moon River) und enthält Neuerzählungen uralter Bluessongs. Aber eben keine beliebigen Neuerzählungen!

"His Last Letter" wurde in Amsterdam eingespielt, Hauptstadt der Niederlande, mit einem niederländischen Kammermusikensemble. Ein kühnes Unterfangen!
Schon in den Sechzigern bei der Jug Band bin ich es gewesen, der einen Großteil der Arrangements besorgte und mit verrückten Ideen um die Ecke kam. Zum Glück fand sich ein Sponsor für das Projekt in Amsterdam, so dass ich manches ausprobieren und mit dem Titelstück eine eigene klassische Komposition beisteuern konnte.

Zuerst erschienen war "His Last Letter" im Herbst 2021 als opulentes Doppelvinyl, vorliegend das Album seit Sommer 2022 auch als Doppel-CD. Beide Ausgaben enthalten Begleitbooklets mit detaillierten Hintergrundgeschichten zu jedem einzelnen Song. Sehr persönlichen Hintergrundgeschichten, was die obligatorische Frage nach dem Songauswahlverfahren überflüssig macht. Die Auswahl ist autobiographisch!?
Richtig, einige Stücke kamen nicht aufs Album. Mein Arrangement eines Klavierstücks von Brahms ließen wir weg, ich konnte keine persönliche Geschichte zu Brahms erzählen. Meine Zeit mit Brahms in Hamburg, ich war nicht dabei. Alles andere hat einen persönlichen Hintergrund.

Manche Songs sind über die Jahre treue Weggefährten geworden. Das von Nate King Cole ersteingespielte "Gee Baby, Ain't Good To You" war bereits auf Soloalbum Nummer zwei "Geoff Muldaur Is Having A Wonderful Time" enthalten, "Prairie Lullaby" aus der Feder von Jimmie Rodgers sogar schon auf "Pottery Pie", dem ersten Duoalbum mit Maria Muldaur. Welche Songs auf "His Last Letter" sind dir besonders wichtig?
Verschiedene Stücke sind mir aus verschiedenen Gründen wichtig. Die klassische Titelkomposition, ein Oktett in drei Sätzen, ist zutiefst autobiographisch. Das Stück beruht auf einem Brief meines Urgroßvaters, der Seefahrer war, Korvettenkapitän der USS Oneida, um genau zu sein. Den Brief, ein Liebesbrief an seine Frau zuhause in New Jersey, schrieb er in der Nacht zum 24. Januar 1870, bevor sein Schiff vor Yokohama beim Verlassen der Tokyo Bay im Nebel mit einem britischen Dampfschiff kollidierte und in den Fluten versank. Duke Ellingtons "Lady Of The Lavender Mist" bedeutet mir auch sehr viel. Ziemlich kniffelige, seltsame Harmonien, von denen ich annahm, dass ich sie nicht bewältigen würde. Aber ich erkannte, was Sache ist und ging es anders an als Duke Ellington. Ich bin ich. Bei mir ist das Stück eher geschrieben für Fred Astaire auf einer Reise in den Dreißigern nach Paris, um im Hot Club Of France abzutanzen. Ich schrieb es im Cabaret-Stil, denke aber, es funktioniert. Bin sehr zufrieden damit.

Dein Begleittext zu "His Last Letter" verknüpft "Lady Of The Lavender Mist" mit der Jim Kweskin Jug Band. Warum?
Weil ich, während ich bei Jim Kweskin war, Duke Ellington mehrmals begegnet bin. Im Begleittext erwähne ich nur eine Begegnung. Dieses bewegende Erlebnis, ihm aus nächster Nähe zuhören zu können in jenem Klub in Boston, als Dizzy Gillespie rein kam, in seinem Waschbärpelzmantel, seine Trompete unterm Arm, draußen Schneegestöber. Fantastisch! Welch ein Glück, jung und in die Welt der Musik eingetaucht zu sein, im letzten Drittel des Goldenen Zeitalters nicht nur der amerikanischen Musik, der Musik überall. Das liegt hinter uns, aber wir können lernen davon, nach den nächsten Krokussen im Schnee Ausschau halten. Kleinen Dingen, die aufblühen und kundtun, hier hat jemand etwas hervorgebracht, hört es euch an. Als ich jung war, wandelten abertausende Genies über diesen Planeten, egal ob Giannis Papaiounnou im griechischen Rembetiko oder Oum Kalthoum in Kairo. Glücklicherweise befand ich mich in Amerika, wo ich unzählige brillante Leute erleben durfte. Nicht vergessen, Leute sind das gewesen, keine Musikstile. Menschen machen das. Wenn du Lonnie Johnson begegnet bist oder Sippie Wallace, bist du Giganten begegnet.

Amerikanischer Blues, Jazz oder auch Country Music und europäische Klassik, dazwischen liegen Welten. Wie ist es gelungen, beides miteinander zu verschmelzen?
Das weiß ich selbst nicht so genau. Interessant fand ich allerdings, als ich die Stücke zuerst in Los Angeles mit Mitgliedern des LA Chamber Orchestra in kleiner Besetzung probte, bevor ich nach Amsterdam ging, wussten die Musiker in Los Angeles sofort, worauf es ankam. Die Musiker in Amsterdam eher nicht, sind aber die besseren Musiker gewesen. Klassische Musik ist europäische Musik, Europäer erfanden unsere Musik, ich sage es ungern. Selbst Ladysmith Black Mambazo singen Harmonien europäischer Herkunft. Jedenfalls, die Europäer begriffen nicht sofort, aber als sie es begriffen, entfaltete sich eine wunderbare Atmosphäre. Das war das Aufregende an dem Projekt, eine Balance zu finden zwischen Eloquenz und musikantischer Meisterschaft, so dass auch das Musikempfinden meines Herkunftslandes Berücksichtigung findet. Amsterdam war genau der richtige Ort dafür.

Das Kernensemble der Albumeinspielung an Violine, Cello, Fagott, Waldhorn und Klarinette bestand aus Alida Schat, Mick Stirling, Margreet Bongers, Wouter Brouwer und Hans Colbers. Alle fünf wahre Meister an ihrem Instrument.
Das kann man wohl sagen! Diese fünf Musiker schenkten mir mehr von ihrer Zeit als ich erwarten durfte. Sie waren so gut! Aber ich denke, sie spürten, dass ich etwas anderes versuchte, dass meine Musik gut war, ich aber neu war in ihrer Welt. Wir sprachen verschiedene Sprachen, nicht nur Holländisch und Englisch, auch verschiedene musikalische Sprachen. Sie fanden das interessant, und ich freue mich, dass wir der Mezzosopranistin Claron McFadden begegnet sind, die in den Adelsstand erhoben wurde und jetzt Lady McFadden heißt. Sie singt den zweiten Satz des Oktetts.

Am Anfang deiner Musikerexistenz die Jim Kweskin Jug Band, knapp sechs Jahrzehnte später Kammermusik europäischer Prägung. Was ist der gemeinsame Nenner beider Welten, das verbindende Element?
Nicht falsch verstehen, aber die Gemeinsamkeit ist Geoff Muldaur. Achtzig Prozent der Arrangements bei der Jug Band kamen von mir, richtig clevere Sachen teilweise. Mir machte das Spaß. Bei Paul Butterfield hielt ich mich zurück, schrieb danach aber viel für Dokumentarfilme, für Werbung. Es ist etwas komplexer, aber es ist dasselbe Gehirn, das Ideen ausbrütet, aufschreibt, sich ans Klavier setzt, mit dem Hund spazieren geht, etwas im Kopf hört, nach Hause geht und schlau werden will aus dem, was im Kopf vorgeht, um es aufzuschreiben. Lustigerweise gebe ich gerade Interviews zu etwas, das hinter mir liegt. Meine Gedanken sind schon beim nächsten Projekt. Ich arbeite nicht wegen Geld oder Auszeichnungen.

Wie hast du das Notenschreiben gelernt? Die Jug Band Music deiner Anfangstage beruht auf mündlicher Überlieferung.
Als die Jug Band auseinanderging, fing ich an Partituren zu kaufen. Als erstes Igor Stravinskys "The Rite Of Spring", ich brauchte eine Woche um zu kapieren, was auf der ersten Seite abgeht. Aber so fing es an. Weitere Partituren kamen dazu, von Beethoven, Mozart. Parallel las ich viel, nahm Klavierunterricht, Klarinettenunterricht, lernte Notenlesen. Erst dachte ich, dass mir das etwas von meiner Seele rauben würde. War aber nicht der Fall. Wir spielen mit dem Herzen, schauen nicht aufs Notenblatt. Ich mag Kammerensembles, die beim Spielen nicht aufs Notenblatt schauen. Eine gute Idee, aus der Erinnerung zu spielen und sich dem Gefühl hinzugeben.

Gewachsen über die Jahre auch eine Begeisterung für Jan Vermeer, den niederländischen Barockmaler. Im Anschluss an eine Europatour 2009 im Duo mit Jim Kweskin, bist du eigenes nach Dresden gereist, um dir in der Gemäldegalerie Alte Meister Vermeers "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" anzuschauen. In der Rubrik "What's Up" deiner Website schreibst du ausführlich über deinen Dresden-Besuch. Was ist das Besondere an Vermeer?
Vermeer erinnert mich an "Lady Of The Lavender Mist", wegen seiner Detailfülle, der Wärme, der Dichte. Ich bin kein Kunstkritiker, das ist ein Freizeitvergnügen bei mir. Ich kann nur mit meinem Herzen sehen, und ich bin nicht der einzige, der Vermeer liebt. Aber ich nehme an, es ist das Licht, die Detailfülle. Als er malte, war Krieg draußen vor der Tür seines Ateliers. Kanonenkugeln, Musketenkugeln flogen umher, Menschen schrien, und er erschuf wunderbare, friedvolle Bilder. Unglaublich, und das ist nicht das einzige grandiose Bild der Dresdner Gemäldegalerie. Die Cranachs waren auch toll. Nicht leicht, eine Wahl zu treffen. Ein tolles Museum.

Könnest du dir vorstellen, ein Orchesterstück über Vermeer zu schreiben?
Noch nie drüber nachgedacht, ich behalte das im Hinterkopf als nächste, verrückte Idee! Im Augenblick bearbeite ich ein Gedicht von Aischylos, das Robert F. Kennedy vortrug, in der Nacht als Martin Luther King ermordet wurde. Er rezitiert Aischylos im Angesicht einer Menschenmenge von Amerikanern schwarzer Hautfarbe, der er die Nachricht von der Ermordung von Martin Luther King überbrachte. Ein unfassbares Gedicht, ich versuche Musik dazu zu schreiben. Wir werden sehen, die nächste Idee ist immer die Idee.
Bernd Gürtler/TM


Geoff Muldaur
"His Last Letter"
(Moon River Music; 15.7.2022)


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Foto: Moon River
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