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Steve Hackett: Progressive Rock aus erster Hand

Ende der siebziger Jahre überwindet Rockmusik die konventionelle Songform, gestaltet sich sinfonischer und von den Songtexten her um ein Vielfaches facettenreicher. Steve Hackett gehört zu den Miterfindern des als Progressive Rock bezeichneten Phänomens. Auf Betreiben von Peter Gabriel Mitglied bei Genesis geworden, startet er noch vor dem Bandkollegen eine Solokarriere, die bis in unmittelbare Gegenwart reicht. "The Circus And The Nightwhale" heißt sein dreißigstes Soloalbum, veröffentlicht Mitte Januar 2024 wenige Tage nach seinem vierundsiebzigsten Geburtstag.

Von einem Abstecher ins kanadische Vancouver abgesehen, ist der Londoner Stadtteil Pimlico das Einzugsgebiet seiner Kindheit und Jugend. Die Familie bezieht Quartier in einem der Neubaublocks unweit Churchill Gardens, direkt gegenüber des durch Pink Floyds Albumcover anlässlich "Animals" zu Weltberühmtheit gelangten Kohlekraftwerks Battersea mit den mächtig gewaltigen vier Schornsteinen. Sein Schulweg zur Sloane Grammar School in Chelsea führt tagtäglich die King's Road entlang, in den Swinging Sixties ein Hotspot Londoner Hippness. Begegnungen mit den Beatles sind dem überzeugten Fan der Fab Four leider nicht vergönnt, immerhin aber Sichtungen von Mick Jagger und Brian Jones, deren Rolling Stones Steve Hackett zu gern beigetreten wäre.

Stattdessen findet er Anschluss an Canterbury Glass beziehungsweise Quiet World, ist dort sogar an Albumeinspielungen beteiligt, bis Peter Gabriel sein Inserat in der britischen Musikzeitschrift Melody Maker entdeckt. Nach einem ausführlichen Vorspieltermin entscheiden Genesis zu seinen Gunsten als Gitarristennachfolger für Anthony Phillips, kurz nachdem Phil Collins John Mayhew am Schlagzeug abgelöst hatte. Nicht nur, dass Steve Hackett jetzt mit bessergestellten britischen Gesellschaftsschichten in Berührung kommt, endlich darf er seine Orientierung an europäischer Klassik vollumfänglich einbringen; als bis heute gültige Haupteinflüsse nennt er die Kompositionen Johann Sebastian Bachs beziehungsweise Mario Lanza, einen amerikanischen Opernsänger und Hollywoodfilmstar der vierziger Jahre.

Steve Hacketts Beiträge zu den Genesis-Alben "Nursery Crime", "Foxtrott", "Selling England By The Pound" und "The Lamb Lies Down On Broadway" sind essenziell. Als Peter Gabriel 1975 seinen Ausstieg aus der Band verkündet und das Schicksal von Genesis besiegelt scheint, hatte Steve Hackett mit "Voyage Of Acolyte" bereits sein erstes Soloalbum im Kasten. Nichts destotrotz bleibt er noch für "A Trick Of The Tail" sowie "Wind & Wuthering" und ist auch noch auf dem monumentalen Livedoppel "Seconds Out" zu hören, kommt dann aber auch zu dem Schluss, dass es Zeit ist, eigene Wege zu gehen. Seine nächsten Soloalben "Please Don't Touch", "Spectral Mornings", "Defactor", "Cured" und "Highly Strung", zusammen mit "Voyage Of Acolyte" 2007 im Boxset "Premonitions" von Steven Wilson remastered und remixed wiederveröffentlicht, sind beredtes Zeugnis der Richtigkeit seiner Entscheidung.

Dann zerfällt das Soloschaffen etwas in seine Einzelteile. "Blues With A Feeling" eröffnet, dass er wie Heerscharen seiner britischen Altersgenossen irgendwann auch der schwarzen Musik Amerikas zugetan war; die Mundharmonika, die Steve Hackett auf dem Album spielt, ist das erste Instrument, das er ernsthaft zu erlernen beginnt. Die akustische Nylongitarre, das zweite seiner Favoriteninstrumente, steht im Fokus von "Bay Of Kings", "Monument", "Guitar Noir", "A Midsummer Night's Dream" sowie "Sketches Of Satie", auf letzteren beiden Alben im Zusammenwirken mit dem Royal Philharmonic Orchestra beziehungsweise Bruder John Hackett. "Til We Have Faces" vertieft seine Auseinandersetzung mit ethnischer Musik. Mit Steve Howe und Chris Squire, beide hauptamtlich bei Yes, entstehen die kurzlebigen Projektformationen GTR sowie Squackett.

Nie um das nächste Projekt verlegen, ereilt ihn alsbald der Ruf, eher Musiker zu sein als jemand, dem ähnlich Peter Gabriel an der Verbreitung dringlicher Botschaften gelegen ist, obendrein von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Doch der Eindruck täuscht, auch seine Songtexte sind mehr als verzichtbare Dreingabe. "Every Day" handelt von einer dem Drogenkonsum zum Opfer gefallenen Jugendfreundin, "Taking You Down" möglicherweise von ihrem Drogendealer, "Fire On The Moon" von Depressionen, ausgelöst durch die nicht eben feine Trennung von Ehefrau Kim Poor. "The Virgin And The Gypsy" und "Narnia" sind angelehnt an die gleichnamige Novelle von D.H. Lawrence beziehungsweise die Fantasy-Erzählung "The Lion, The Witch And The Wardrobe" von C.S. Lewis. "Tigermoth" ist eine Geistergeschichte um im Einsatz getötete Royal-Air-Force-Piloten des Zweiten Weltkriegs. "The Golden Age Of Steam" macht den Verrat an Anne Frank und ihrer Familie in Amsterdam zum Thema. Der Titelsong zu "Darktown" attackiert ähnlich Pink Floyds "Another Brick In The Wall, Part 3" das britische Bildungssystem.

Dass sich Steve Hackett seit "Genesis Revisited" regelmäßig dem künstlerischen Erbe der Band, deren stilprägendes Mitglied er einst war, widmet und sogar komplette Alben zur Wiederaufführung bringt, geschieht nicht nur zur Freude einer begierigen Fangemeinde. Die abermalige Beschäftigung mit dem Material schärft das eigene Songschreibervermögen, spätestens "The Circus And The Nightwhale" kann an frühere Qualitäten anknüpfen. Freudige Wiederkehr feiert die saisonale Rummelplatzatmosphäre von Battersea Park, die in Kindertagen von der anderen Uferseite der Themse herüber wehte und erstmals auf "Voyage Of Acolyte" zum Klingen gebracht wurde. Das Quasititelstück "Into The Nightwhale" rekapituliert Angsterfahrungen verschiedener Krisensituationen seines Lebens. Die Setlist seiner Europatour im Sommer 2024 verspricht laut Steve Hacketts Website "Genesis Greats, Lamb Highlights & Solo"-Material.
Bernd Gürtler/TM


Steve Hackett
"The Circus And The Nightwhale"
(InsideOut; 16.02.24)


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Foto: Sony Music
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