|   Rezension

Steven Wilson

The Harmony Codex

(Virgin)

Heute schon über die Quintessenz des Lebens nachgedacht? Dann sei "The Harmony Codex" dringendst ans Herz gelegt. Unschwer zu erraten, was der Künstler im Schilde führt. Schlappe drei Minuten darf das von munteren Elektrobeats vorangetriebene Eröffnungsstück "Inclination" instrumentale Pirouetten drehen und sogar eine Kunstpause einlegen, bevor der Gesang einsetzt. Völlig klar, das Album will Gelegenheit bieten sich einzulassen, um an zweiter Stelle bei "What Life Brings" zu pinkfloydischer Akustikgitarrenmelancholie auf den Punkt zu kommen.

Überhaupt scheint Steven Wilsons siebtes Studiosoloalbum ein spiegelverkehrtes "The Dark Side Of The Moon" zu sein. Dort das Uhrenläuten in "Time", ein Geldmünzengeklimper in "Money" und ähnliche Alltagsgeräusche gedacht als Hinweis, dass das Sinnieren des Erzählers die reale Lebenswirklichkeit betrifft. Umgekehrt unterbreitet "The Harmony Codex" das Angebot, sich Umständen, die weitaus komplexer und krisengeschüttelter sind als vor fünfzig Jahren, zu entziehen und auf sich selbst zurückgeworfen seinen Umgang mit den Verhältnissen zu überprüfen.

Den Weg der Erkenntnis weisen "What Life Brings", "Economies Of "Scale", "Impossible Tightrope", "Rock Bottom" beziehungsweise der Albumtitelsong mit begleitenden Videos. Dass die Clips eine Einheit bilden, ergibt sich aus den farbigen, stufenförmig angeordneten Quadraten vom Albumfrontcover, die von Video zu Video als Miniplastik weitergereicht werden; jedes Quadrat steht für einen der insgesamt zehn Songs.

Verbindendes Element neben der thematischen Klammer ist außerdem, dass nahezu das gesamte Material mehr oder weniger parallel zu Corona in Steven Wilsons Londoner Home Recording Studio entstand. Wegen der pandemiebedingten Lockdowns selbst von sozialer Entkopplung betroffen, ließ er sämtliche Bedenken fallen und bringt mit "The Harmony Codex" das stilistisch vielfältigste, unternehmungslustigste Album seines Soloschaffens zustande.

Aber ebenso wie nach der Viruspandemie wieder eine Form von Normalität einzog, findet auch das Album zurück in den Alltag. "Actual Brutal Facts" und "Staircase" berichten vom Selbstoptimierungswahn, den Existenzängsten der westlichen Leistungsgesellschaften, den Risiken und Nebenwirkungen des Digitalzeitalters samt seiner sozialen Medien. Bis am Schluss die Erkenntnis reift, dass die Quintessenz des Lebens der spiralförmigen Bewegung einer Wendeltreppe entspricht und keiner weiß, wo es einen hinführt. Nicht sonderlich neu die Erkenntnis, aber auch nicht übermäßig erschreckend für Steven Wilson mit inzwischen Mitte fünfzig, seit vier Jahren verheiratet und Vater zweier Stiefkinder. "The Harmony Codex" verbindet berauschende Klangwelten mit scharfsinniger Nachdenklichkeit. Großartig!
Bernd Gürtler/TM


Steven Wilson
"The Harmony Codex"
(Virgin; 29.9.23)


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