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Algiers: Der Denkmuskel amerikanischer Internationalisten

Eher selten, dass Interviewtermine im sorgsam ausgetüftelten Zeitplan bleiben. Abweichungen sind die Regel. Notgedrungen mussten Franklin James Fisher und Ryan Mahan irgendwann getrennt Medienarbeit leisten, obwohl sie sämtliche Verabredungen im Hotel Michelberger Anfang Dezember vergangenen Jahres in Berlin ursprünglich gemeinsam bewältigen wollten. Aber, versichert der Vertreter ihres Schallplattenlabels, beide sind auf das Engste in die kreativen Prozesse eingebunden. Kompetente Auskünfte sollten gewährleistet sein, egal wen man befragt. Etwas anderes hätte einen sowieso gewundert, denn was sind Algiers?

Amerikanische Internationalisten, die ihre Band als Denkmuskel einsetzen. Albumeinspielungen entstehen im Kollektiv, dank globaler Vernetzung über Stadtgrenzen, sogar Kontinente hinweg und ungeachtet jeglicher ethnischen Zugehörigkeit. Franklin James Fisher ist Afroamerikaner und lebt in New York. Ryan Mahan, ein Weißer, zog nach London. Lee Tesche, Sohn asiatischer Einwanderer und drittes Mitglied des Gründertrios, blieb in Atlanta, Georgia, wo sie aufgewachsen und als Schuljungen einander begegnet sind.

Ihre Songtexte verbinden wortgewandte Poesie mit blitzgescheiter Gesellschaftsanalyse und erfassen den besorgniserregenden Zustand der Menschheit in seiner gesamten Vielschichtigkeit. Transportiert werden ihre nicht sonderlich ermutigenden Weltbetrachtungen durch eine düstere wie komplexe Musik, die ein extrem breites Spektrum populärmusikalischer Einflüsse verarbeitet. Von TripHop bis Funk und Punkrock ist so gut wie alles berücksichtigt. Das Stiletikett Dystopian Soul wurde eigens für Algiers geprägt. Ihr drittes Album "There Is No Year" (Matador) nimmt im Albumtitel Bezug auf den gleichnamigen Roman von Schriftstellerkumpel Blake Butler, verrät Ryan Mahan dann im Gespräch.

Vorausgegangen war "There Is No Year" die Singleauskopplung "Dispossession". Worum geht es dort?
Das ist der älteste Song des Albums, mehr ein Nachtrag zum Albumvorgänger "The Underside Of Power" von 2017. Ein Aufbegehren, ein Weckruf, der die Zuversicht verbreiten soll, dass es ein Morgen gibt. Nehmen wir Abschied von Amerika und die Welt gehört uns! Sowas in der Art. Ein super positiver Moment. Diese Kraft braucht es zwischen den übrigen Songs, die durchweg pessimistischer sind.

Zu Deutsch heißt "Dispossession" so viel wie Enteignung. Ist Besitz die Ursache allen Übels?
Nein, obwohl wir uns in kapitalistischen Verhältnissen bewegen, sprich mit Gesellschaftsstrukturen auseinandersetzen müssen, die vollkommen destruktiv sind. Besitz hat eher mit Würde zu tun. Genau jener Würde, derer du tagtäglich beraubt wirst. Durch die erbärmlichen Umstände, unter denen Erwerbsarbeit stattfindet. Dir bleibt kaum eine Chance, dich zu reflektieren, weil du damit beschäftigt bist, deinen Lebensunterhalt zu verdienen, deine Familie durchzubringen. Arg beschränkt die Möglichkeiten, dich überhaupt artikulieren zu können. Am Ende verweigern sich die Leute politischen Perspektiven generell. Außer solchen wie sie in Argentinien, in Bolivien, in Chile Oberhand gewinnen. Oder ganz schlimm in Amerika, wo ein absolutes Monster ins Präsidentenamt gewählt wurde. Oder nimm Großbritannien und den Brexit! Ich bin zuversichtlich, gebe mich aber keinerlei Illusionen hin, wie das ausgehen wird.

Der Videoclip zu "Dispossession" entstand in einer imposanten architektonischen Kulisse. Wo genau?
Das wurde in Außenbezirken von Paris gedreht, in zwei Sozialwohnungsbauanlagen aus den Achtzigern. Eine heißt "Abraxas", dort entstand Terry Gilliams zukunftsskeptische Spielfilmgroteske "Brazil". Die andere nennt sich "Picasso" und ist die mit der runden Formgestaltung, den offenen Plätzen. Wir wollten uns in ein von Menschenhand gestaltetes Umfeld begeben, das mindestens genauso viel aussagt, wie es verbirgt. Diese Gebäude hinterlassen einen unglaublichen Eindruck, wirken zukunftsweisend, sind aber ein Ort der Unterdrückung. Frankreich brachte dort Migranten aus seinen ehemaligen Kolonien unter. Ein schroffer Kontrast zwischen Schönheit, Kunst und Brutalität. Aber genau daran wollen wir anknüpfen. Der Bandname Algiers geht zurück auf den Kampf der Algerier gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs. Das Video soll Franzosen daran erinnern, was Bestandteil ihrer Geschichte ist, genauso wie das zerstörerische Amerika zu unserer Geschichte gehört. Der Internationalismus der algerischen Befreiungsbewegung ist eine essentielle Inspiration für uns gewesen, ebenso wie für die Black Panther oder das Volk der Palästinenser. Es hat durchaus Momente in der Menschheitsgeschichte gegeben, wo wir über Ländergrenzen Verbündete gewesen sind, anstatt uns durch Grenzen trennen zu lassen.

Und du würdest sagen, dass "Dispossession" tatsächlich der einzige optimistische Lichtblick des gesamten Albums ist?
Mehr oder weniger, ja. Die übrigen Songs formulieren ein Gefühl der Angst, der Verzweiflung. Worauf steuern wir zu? Was erwartet uns? Die Befreiung oder das Joch der Unterdrückung? Die Grundstimmung ähnelt der, die Blake Butler in seinem Buch ausbreitet, das genauso wie unser Album "There Is No Year" heißt. Und wo eine Familie aus Vater, Mutter, Kind ein neues Haus bezieht, dort eine Replikantenfamilie von sich vorfindet, die nichts sagt, nichts tut, bis die Familie komplett durchdreht. Ich meine, als die Berliner Mauer fiel, hieß es, endlich, der Kommunismus ist überwunden. Das Ende der Geschichte, halleluja! Wer sich heute im ehemaligen Ostblock umschaut, in Prag, in Moskau, in Ostdeutschland, überall dieselbe beklemmende Stimmung. Oder in Washington, wo ein Faschist in Amt und Würden kam und seine Macht jetzt schamlos zum persönlichen Vorteil ausnutzt.

Der Pressetext zum Album, ebenfalls verfasst von Blake Butler, spielt mit dem Gedanken, Algiers könnten ins Visier der FBI geraten sein. Hattet ihr jemals den Eindruck, dass ihr vom amerikanischen Inlandsgeheimdienst observiert werdet?
Keine Ahnung. Wenn, dann hätten sie mir vielleicht längst irgendwas in den Drink gemischt, damit ich meine Überzeugungen vergesse. Wahrscheinlich sind die Jungs mehr damit beschäftigt, Faschisten zu schützen anstatt etwas Sinnvolles zu tun. Weiß nicht, ob das bekannt ist und unbedingt hiermit zu tun hat. Aber George Zimmerman, der in Florida Trayvon Martin erschoss, wurde wegen Mordes angeklagt. Jetzt verklagt er den Staat Florida wegen der Anklage, obwohl er freigesprochen wurde. Wenn das keine verkehrte Welt ist!

Ganz abwegig wäre es nicht, sollte sich das FBI für euch interessieren. Ihr verhandelt brisante Themen, zeigt offen eure Sympathie für Malcolm X, die Black Panther, für Angela Davis. Auch John Lennon wurde wegen eines ähnlichen Engagements von J. Edgar Hoovers Schlapphutbrigade bespitzelt. Ebenso John Sinclair von MC5, der unter einem fadenscheinigen Vorwand zu mehreren Jahren Gefängnishaft verknackt wurde.
Durchaus, aber unser Publikum hält sich zahlenmäßig in Grenzen, wir sind nicht einflussreich genug.

Ein Wort noch zur sehr speziellen Verfahrensweise, wie bei euch die Songs entstehen. Jemand erarbeitet etwas, das von jemand anderem aus der Band weiterverarbeitet wird. Sein Ergebnis wird dann wiederum erneut weiterverarbeitet. Undenkbar bei gewöhnlichen Rockformation, wegen der ausgeprägten Egos.
Wohl wahr, aber wir haben unsere Egos im Griff.
Bernd Gürtler SAX 2/20


Algiers
"There Is No Year"
(Matador; 17.1.2020)


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Foto: Matador Records
Foto: Matador Records
Foto: Christian Högstedt
Foto: Christian Högstedt

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