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Der Mann am Klavier: Dr. John ist gestorben, und New Orleans verliert seinen wichtigsten Populärmusikbotschafter

"The Last Waltz", Martin Scorseses meisterhaftes Filmdokument vom Abschiedskonzert der amerikanischen Rockformation The Band 1976 im Winterland Ballroom zu San Francisco hat einen seiner packendsten Momente, wenn sich ein bärtiger Mann in Rüschenhemd, kariertem Glitzersakko, pinkfarbener Fliege und magischen Amulettketten um den Hals ans Klavier schwingt, kurz einzählt und dann mit kratziger Stimme sein "Such A Night" vorträgt. Eine wahre Sternstunde und zu verdanken keinem geringeren als Dr. John, bürgerlich Malcolm Mac Rebennack, geboren in New Orleans und auserwählt, die kulturelle Vielfalt seiner Heimatstadt zum Klingen zu bringen. Jetzt ist der sechsfache Grammy-Preisträger im Alter von siebenundsiebzig Jahren gestorben.

Die Speisekarte von New Orleans kennt den Gumbo, eine Eintopfvariation aus kulinarischen Köstlichkeiten der Region, zubereitet je nach individueller Vorliebe und bestens geeignet als Metapher für die Musik der Südstaatenmetropole am Golf von Mexiko, hineingequetscht zwischen Mississippi River und Lake Ponchartrain. Einen frühen Hinweis auf die Zutaten zu seinem Musikeintopf nach New-Orleans-Art gab Dr. John 1972 mit dem Album, das bezeichnenderweise "Dr. John's Gumbo" hieß. Ein einziges eigenes Stück ist enthalten, ansonsten Coversongs wichtiger Inspiratoren.

Professor Longhair repräsentiert die Pianisten der Freudenhäuser und Spelunken im Vergnügungsviertel French Quarter, einem Tummelplatz auch für zwielichtige Gestalten wie im Folksong "Stack-A-Lee" beschrieben. Earl King verkörpert die Bluestradition der Stadt, Huey Piano Smith den Rhythm & Blues, der zu Beginn der sechziger Jahre unter den Einfluss der British Invasion von Beatles & Co. gerät. James Sugar Boy Crawfords "Iko Iko", ein Megahit für Shirley & Lee, sowie "Big Chief" aus der Feder von Earl Gaines sind Referenzen an die Mardi-Gras-Indianer und verzwickten Second-Line-Synkopen ihrer farbenprächtigen Karnevalsumzüge, mit denen New Orleans jedes Jahr den Ureinwohnern der Gegend Respekt erweist.

Bei "Little Liza Jane" wiederum verschaffen sich die Blaskapellen der Beerdigungsprozessionen und Ausflugsdampfer vom Mississippi Gehör. Während jüngeren Datums mit "Duke Eligant", "Mercernary" sowie "Ske-Dat-De-Dat: The Spirit Of Satch" Tributealben an die Jazzidole Duke Ellington, Johnny Mercer und Louis Armstrong in seiner beachtlichen Gesamtdiskographie verzeichnet sind. Darüber schwebt der Geist der französischen Stadtgründer und ihrer spanischen Erbfolger, verwoben mit dem Bewusstsein, dass New Orleans ein bedeutender Umschlagplatz im Sklavenhandel mit Afrika war beziehungsweise neben New York zum wichtigsten Überseehafen für europäische Emigranten auch aus Deutschland wurde. Obendrein spendiert sich New Orleans als erste Stadt der Vereinigten Staaten ein Opernhaus, was ebenso prägend sein sollte wie die stets allgegenwärtigen Einflüsse der Karibik.

Kurzum, N'Awlinz, wie die Einheimischen sagen, ist ein unglaublicher Schmelztiegel der Kulturen. Weshalb ausgerechnet Dr. John die Rolle eines Populärmusikbotschafters zufiel, das lag wenigstens teilweise in seiner Familiengeschichte begründet. "Die Vorfahren meines Vaters sind Franzosen und Deutsche aus Elsass-Lothringen gewesen. Eine Französin sagte mir, in der französischen Stadt Poax an der Grenze zu Spanien ist Mac Rebennack der Name von Basken. Friedhofsgrabsteine meiner Familie nennen Namen wie Alois oder Joseph, Frauen hießen Huber", verriet Dr. John bei einer Interviewverabredung 1994 in Berlin.

Geboren 1941 im 3rd Ward von New Orleans, gehört Musik bei ihm zu Hause zum Alltag. "Meine Tanten spielten fast alle Klavier. Mein Vater handelte mit Schallplatten, im Viertel um die Dillard University mit überwiegend schwarzen Studenten. In den Vierzigern, als ich aufwuchs, verkaufte er zu vier Fünftel schwarze Musik. Er hat mir jede Menge Schallplatten überlassen. Als ich begann Gitarre zu spielen, wollte ich T-Bone Walker sein, nicht Chet Atkins." Bereits als Schüler fand Dr. John Anschluss an die wohlgemerkt von Schwarzen dominierte Musikergemeinde von New Orleans. Er hingegen ein Spross der weißen Mittelschicht, und das zu Zeiten noch strikter Rassentrennung in den USA. Aber "für die Musiker ging das in Ordnung, die Musikergewerkschaften sind eher das Problem gewesen".

Sein Künstlerpseudonym, vollständig Dr. John The Nite Tripper, stammt von einem tatsächlichen Voodoo Doctor und Freund der Familie. "Meine Urgroßtante Pauline Rebennack und dieser Bursche mussten ins Gefängnis, angeblich weil sie ein Bordell unterhielten und mit Voodoo zu schaffen hatten. Das weiß ich von meiner Schwester. Als mein erstes Album entstand, erinnerte ich mich daran. Ich gab mich als Dr. John aus. Leider kenne ich nicht die ganze Geschichte. Aber es gibt ein Buch von Lafcadio Hearn und einen Artikel in der Tageszeitung von New Orleans."

Hartnäckig hielt sich das Gerücht, Dr. John selbst sei ein zertifizierter Voodoo Doctor. Entschieden bestreiten wollte er es nie, höchstens hinlenken auf gewisse Vorzüge seiner Musik. "Bestimmte Tonarten, bestimmte Akkorde, Dur, Moll, bewirken etwas. Dasselbe gilt für Farben. Die Umgebung formt den Menschen, Musik ist eine heilende Kraft. Freilich kann man auch Böses bewirken. Ich aber glaube fest, dass Böses nur Böses schafft, Gutes hingegen Gutes." Von den vier Alben vor "Dr. John's Gumbo", sprich von "Gris-Gris", "Babylon", "Remedies" sowie "The Sun, Moon & Herbs" jedenfalls geht etwas Hypnotisches aus. Genauso dürfte sie klingen, die Begleitmusik einer Voodoo-Zeremonie. So stellt man sich das vor.

Danach entschlackt Dr. John seinen Stil und dreht ihn in den Funk. Immerhin sind inzwischen Sly & Family Stone auf der Bildfläche erschienen, in New Orleans die Meters, eine Vorgängerband der Neville Brothers. Zwei seiner nächsten Alben, "In The Right Place" und "Desitively Bonnaroo" übermitteln Südstaatenweisheiten wie "What Come Around (Goes Around)" oder "Quitters Never Win".

Wer New Orleans irgendwann einen Besuch abstatten möchte, sollte sich am besten "Goin' Back To New Orleans" von 1992 einpacken. Dr. John holt dort historische Persönlichkeiten, Schauplätze und Ereignisse aus der Vergangenheit hervor, dass man sich New Orleans in mikroskopisch feinen Partikeln gewissermaßen erschnuppern kann. "N'Awlinz: Dis Dat or d'Udda", "Sippiana Hericane" und "City That Care Forgot" verstehen sich ebenfalls als Hommage an seine Heimatstadt, sind allerdings geprägt vom Zorn über das, was New Orleans wegen Hurricane Katrina widerfahren ist.

Eine weitere Großtat gelingt 2012. "Locked Down" heißt das Album, eingespielt mit Dan Auerbach von den Black Keys als Chefproduzenten. Die Songtexte sind von einer wütenden Sozialkritik wie 1969 auf "Babylon", seinerzeit entstanden als Reaktion auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung und den Krieg der USA in Vietnam. Vergleichbares fand sich zwischendurch unter anderem auf "Desitively Bonnaroo" mit "Stealin'", "(Everybody Wanna Get Rich) Rite Away" oder "Let's Make A Better World."

Den Schlusspunkt unter "Locked Down" setzt "God's Sure Good", sein letzter bislang veröffentlichter eigener Song. Eine Textpassage lautet, "God's been good to me, better than me to myself/Saved my soul when it was all I had to sell/Taught me a lesson, brought me a blessing/God don't be guessing". Später verleiht Dr. John seiner Hoffnung Ausdruck, ihm möge Gerechtigkeit widerfahren, wenn er dereinst ans Himmelstor klopft. "A better way, a better day, God knows I'm okay", singt er. Selbstverständlich, ganz sicher sogar wird der Herrgott wissen, dass er einer von den Guten war. Fehlbar als Mensch sicherlich auch, nicht von Ungefähr umfasst die Songauswahl zu "Dr. John's Gumbo" das ebenso durch Louis Jordan, Professor Longhair oder The Clash bekannte "Junco Partner"; auch Dr. John war zeitweise den Drogen verfallen. Als Künstler jedoch ist er eine kreative Urgewalt gewesen, ein echtes Phänomen. Am 6. Juni 2019 erlag Dr. John einem Herzinfarkt. Thank you for the music & R.I.P.!
Bernd Gürtler/TM

Bevor Malcolm Mac Rebennack 1968 mit seinem Debütalbum "Gris-Gris" zu Dr. John The Nite Tripper wurde, schlug er sich jahrelang als Studiomusiker durch. Einspielungen aus dieser Zeit sind auf "In The Studio With Mac Rebennack a.k.a. Dr. John 1959-1961" zusammengefasst. Dass ihm zeitlebens nie die Neugier und Lust auf Ungewöhnliches abhandengekommen war, verraten spätestens seine Gastbeiträge 2010 zu Thomas Stelzers "Dreams - The New Orleans Session". Hätte er nicht tun müssen, sich mit einem Liebhaber der New-Orleans-Musik aus der Sachsenkapitale Dresden einzulassen, Pianist wie er noch dazu. Aber er war so frei, das hat ihn interessiert. Ach so, und das Bonnaroo Festival, das seit 2002 jedes Jahr zur Sommerzeit auf einer Farm unweit von Manchester, Tennessee stattfindet, ist selbstredend nach dem Album "Desitively Bonnaroo" benannt. 'Bonnaroo' bedeutet in der kreolischen Alltagssprache von New Orleans so viel wie 'good stuff'. Dr. Johns Musik ist immer auch 'good stuff' im Sinne von guter Laune gewesen. Man legt sich einen seiner Klassiker auf, und der Tag ist gerettet!
BG/TM


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Foto: Michael Wilson
Foto: Michael Wilson

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