|   Beitrag

Als die Beatles durchgestartet sind: Paul McCartneys Fotobildband "1964-Augen des Sturms"

Wenn urplötzlich Erinnerungsbilder aus dem Unterbewusstsein aufsteigen, ziemlich jeder kennt das wahrscheinlich. Paul McCartney war sich sicher, zu bestimmten solcher Episoden irgendwo Gegenstücke in materialisierter Form abgelegt zu haben, als Fotografien und nicht etwa nur inzwischen vergilbte Papierabzüge sondern obendrein die Filmnegative. Im Archiv seiner Managementfirma MPL Communications fand sich das Material, angefertigt zu einem Zeitpunkt als die Beatles durchgestartet sind. Eine Auswahl wurde zuerst von der Londoner National Portrait Gallery gezeigt und findet sich jetzt zwischen Buchdeckeln zusammengefasst.

Anfang Februar 1964 fliegen die Beatles nach New York und absolvieren ihren ersten Auftritt in der Ed Sullivan Show, tags darauf ist nichts mehr wie es war. Endgültig übergesprungen die Beatlemania von Großbritannien auf die USA, unmittelbar darauf geht Rockmusik als globales Phänomen um die Welt. Noch zuhause in Liverpool hatte sich Paul McCartney eine Kleinbildkamera zugelegt und macht die nächsten drei Monate reichlich Gebrauch davon, begleitet den Umzug der Beatles nach London, kurz darauf ihren umjubelten Auftritt im Pariser Boulevardtheater Olympia, wo ihnen per Telegrammboten die Nachricht zugestellt wird, dass ihr "I Want To Hold Your Hand" in den Singlecharts der amerikanischen Branchenzeitschrift Billboard auf Platz Eins steht; genau der Karrierebooster, den es brauchte, um in die Neue Welt aufbrechen zu können.

Bis dahin fotografiert Paul McCartney meistenteils Porträts seiner Beatles-Mitstreiter John, George und Ringo, von Manager George Martin, Roadie Mal Evans, Pressesprecher Tony Barrow, ihrem Chauffeur Bill Corbett oder von Musikerkollegen auf und hinter der Bühne. In New York sowie den beiden Folgestationen Washington DC beziehungsweise Miami richtet sich der Blick nach außen, voller Unglauben angesichts der euphorisierten Fanheerscharen und dass jetzt aberdutzende Kameraobjektive amerikanischer Reporter auf sie gerichtet sind. In Miami, wo die Beatles kurz verschnaufen und es sich bei wohltemperierten Cocktails am Hotelpool gutgehen lassen, kommt eine weitere Komponente hinzu, die britische Nachkriegstristesse der Schwarzweißbilder weicht dem Farbfilm.

Sicher, Paul McCartney selbst sagt von sich, er sei kein Meisterfotograf, was zweifellos zutrifft, sowohl Astrid Kirchherr in Hamburg und seine zweite Ehefrau Linda sind um Längen besser gewesen. Aber in Verbindung mit seinen eigenen und den Kommentartexten der amerikanischen Historikerin Jill Lepore ergeben seine Schnappschüsse einen geschärften Blick auf die frühen Beatles.

Während der Zugfahrt von New York nach Washington DC, fotografiert Paul McCartney einen Bahnarbeiter mit Schaufel, auf dem Flughafen von Miami die Flugzeugmechaniker. Warum? Weil die Männer Repräsentanten des Milieus sind, aus dem er selbst stammt. "Ich bin in einer Arbeiterfamilie in Liverpool aufgewachsen und fühle mich solchen Menschen immer verbunden", schreibt Paul McCartney, um sich anderthalb Seiten später vom Alltagsrassismus befremdet zu zeigen. Auftritte in Südafrika hatten die Beatles abgelehnt, wegen der Apartheid, und in den USA sollten sie vor einem nach schwarzer und weißer Hautfarbe getrennten Publikum spielen? Sie lehnen ab. Dummerweise braucht es immer eine Weile, bis gesellschaftliche Umstände in die Kunst einfließen. Andernfalls hätte das frühe Songrepertoire der Beatles nicht nur aus Liebesliedern bestanden, sondern bereits zur selben Zeit wie "A Hard Days Night" ein "Blackbird" enthalten. Wobei auch die Liebeslieder wegen ihres Facettenreichtums aus der Masse herausragen. Insofern bietet "1964-Augen des Sturms" einiges zum Schauen und manches zum Nachdenken.
Bernd Gürtler SAX 8/23


Paul McCartney: "1964-Augen des Sturm" (C.H. Beck 2023)


Paul McCartney im Netz
Facebook | Instagram | Twitter | YouTube |


C.H. Beck im Netz
Facebook | Instagram | Twitter | YouTube 
 

Foto: Universal
Foto: Paul McCartney
Foto: Paul McCartney

neue Beiträge