"Haus" stieß umgehend auf bemerkenswerte Resonanz, bemerkenswert positive Resonanz sogar!
Ja, kann man fast so sagen. Hat mich jedenfalls gefreut.
Wie fühlt sich das an?
Gleich am Anfang freute ich mich so sehr, dass ich mich ganz schnell wieder ausgefreut hatte. Aber es fühlt sich gut an, so viel Herzblut steckt in dem Album, in den Videos! Ich bin froh, dass das rüberkommt.
Unter welchen kulturellen Vorzeichen dein kreatives Schaffen begann, verrät "Wendekid", das Debütalbum mit Nichtseattle.
Genau, dort fing ich an, mich mit der Frage zu beschäftigen, wie gesellschaftliche Entwicklungen Einfluss auf mein Leben nehmen. Mehrere Songs halten Rückschau und formulieren ein Gefühl, das aus einer Wendedepression resultiert, die auch in meiner Familie spürbar war.
Du bist gebürtige Ostberlinerin und im Wendeherbst 1989 vier Jahre alt gewesen, also selbst ein Wendekid. Wie war das für dich, als Ostdeutsche in Gesamtdeutschland aufzuwachsen?
Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, als jemand anderes irgendwo sonst aufzuwachsen. Ich kann nur für mich sprechen und für mich war es die Normalität. Erst später entstand bei mir der Eindruck, dass mein Umfeld ein zutiefst melancholisches gewesen ist. Manche Gefühle konnte ich auch gar nicht genau zuordnen. Ich weiß, dass ich eine gewisse Schwermut immer schon mit mir trage. Ich glaube, dass das besser geworden oder wenigstens nicht mehr so schlimm ist. Die Wende hat vermutlich jeder anders erlebt. Meine Familie, würde ich sagen, schaute nicht besonders euphorisch, sondern eher mit Sorge in die Zukunft.
Die Ostdeutschen kamen aus einem Land, das nicht mehr existiert, und hatten oft Schwierigkeiten, anzukommen in Gesamtdeutschland, obwohl die meisten ankommen wollten. Verlorengegangen im Irgendwo, ist es das, was du meinst?
Dieses Gefühl kenne ich, aber woher es kommt? Ich würde das nicht auf eine Ursache reduzieren. Vielleicht entspringt es meiner Sehnsucht, irgendwo ankommen, mich sicher fühlen, zur Ruhe kommen zu wollen. Mir fehlt das Gefühl, irgendwo zuhause zu sein. Das hat viele Gründe und ist zu vielschichtig, um es bloß auf die Wende zu beschränken. Ich denke aber, dass das mit reinspielt.
Nichtseattles Debütalbum "Wendekid" erschien 2019, das Album "Haus" Ende April 2024, dazwischen 2022 "Kommunistenlibido".
Das Thema des Albums ist ähnlich. Es geht um eine gerechtere Welt, eine Utopie, die sich sinnvoll und gut anfühlt. Man könnte sagen, dass die drei Alben um dasselbe Thema kreisen, nur vollzieht sich eine Entwicklung. "Kommunistenlibido" enthält bereits ein Gefühl, das später in der Haussuche wiederkehrt. Der Albumtitel knüpft daran an. Gemeint ist kein Kommunismus der Vergangenheit, sondern einer, der noch nie dagewesen ist, den ich noch erreicht sehen möchte.
Der Eröffnungssong zu "Haus" heißt "Beluga" und verhandelt unschöne Datingerfahrungen. Die Begegnung mit einem, der sich ausschließlich um sich selber dreht, hinterlässt ziemlichen Frust. Wieder eine Utopie geplatzt, wieder nicht angekommen, wieder kein Zuhause gefunden. Die Protagonistin bleibt das Sportbeutelkind aus "Treskowallee", mit einem Zelt als mobiler Behausung, wie abgebildet vorn auf dem Albumcover. Später in "Frau sein" eine Auseinandersetzung mit weiblichen Rollenklischees. Müsstest du als Ostdeutsche nicht souverän umgehen können damit? Ostdeutschland hatte selbstbestimmte, starke Frauen und nicht zu knapp.
Diese Unabhängigkeit, dass Frauen berufstätig sein, für sich und die Kinder selbst sorgen konnten, das gab es. Trotzdem, die kulturelle Prägung ist uralt und war im Osten nicht anders als im Westen. Die Unterschiede sind nicht so gravierend gewesen.
Sind sich die beiden Deutschlands ähnlicher als gedacht? Fast sieht es danach aus. Du verfolgst den Gedanken neuerdings auf einer Ebene, wie angedeutet in "Heiterprofan", wo es heißt "Die sagen: 'Ja, na klar, es war ein furchtbares Jahr, doch es ist ganz gut bei uns in Seevetal'. Reden von Urlaubstagen, von 'mal gar nichts machen', von 'Sandburg', 'Schneemann' oder 'steigendem Drachen', 'wohlverdienter Ruhe, höchstens kochen, mal alles vergessen und das viele Wochen." Soll heißen, die vom Schicksal weniger verschwenderisch Bedachten rücken in den Fokus.
Wobei ich gar nicht genau trennen würde zwischen dem ökonomischen Wohlstand und einem Beziehungswohlstand. Ich schreibe auch aus der Perspektive heraus, dass ich meine Eltern früh verloren habe. Es gibt bei mir immer diese Sehnsucht nach einer heilen Welt, auch auf der Beziehungsebene. Und es gibt das ungläubige Staunen darüber, wie Leute tatsächlich heiterprofan in den Tag hineingehen. Das ist mir völlig fremd, bislang jedenfalls.
Beziehungswohlstand lässt sich organisieren. Gemeinschaftssinn lautet das Stichwort, wie im Song "Unterstand". "Wir sind alle verwandt", lautet eine Textzeile.
Auch dieser Song resultiert aus einer Emotion. Auch darum geht es, wie unterschiedlich man in verschiedenen Gemütsverfassungen auf die Welt schaut, und wenn ich ganz mies drauf bin, kommt es mir gar nicht so vor, als seien wir alle verwandt, sondern dass jeder für sich kämpft. Das hat aber auch einen gewissen Trotz. Das lyrische Ich sagt, dann spiele ich eben für mich alleine Klavier. Die andere Seite, die den breiteren Raum einnimmt, erkennt, dass wir wirklich alle verwandt sind. Das ist es, was uns am Ende retten und schützen kann. Wenn man gut damit umgeht, entsteht aus Krisen Großartiges.
Nicht von ungefähr verwendet im Song das Bild von einem Unterstand, der mitwächst, wenn es regnet, wie ein Pilz.
Das stammt aus den "Lustigen Geschichten", einem russischen Kinderbuch, das wir zu Hause hatten. Die Geschichte heißt "Unter dem Pilz". Ich fand es als Kind schon faszinierend, wie die Tiere im Regen Unterschlupf suchen. Das erste Tier sagt, hier passe gerade ich rein, ich glaube nicht, dass du auch noch reinpasst. Dann past aber das nächste Tier auch rein und immer so weiter. Am Ende sind fünf Tiere unter dem Pilz und stellen fest, der Pilz ist im Regen mitgewachsen. Ein schönes Bild!
Zu Ende geht das Album mit der Erkenntnis, dass jegliches Bemühen keinerlei Garantien bietet, egal ob in Ost oder West, Nord oder Süd. Eher stellt sich die Frage nach dem Oben und Unten, nach Klassen und Schichten. "Ich hab gedacht, man muss nur ganz, ganz mutig sein und alles andere kommt verdientermaßen wie von allein. Ich bin immer sooo fleißig. Und trotzdem: irgendwie reichts nicht", heißt es in "Fleißig".
Ich glaube wirklich, dass wir uns existenziell nach Glück sehnen. Das ist ein uraltes menschliches Bedürfnis. Gleichzeitig scheint es mir ein neoliberales Kapitalismusproblem zu sein, wenn einem ständig um die Ohren gehauen wird, wie glücklich man zu sein hat und alles dafür tun muss, aber natürlich ausschließlich selbst verantwortlich ist. Deshalb wird Glück zu einem Statussymbol und wer es nicht schafft, gilt als Verlierer. Das macht einen wahnsinnigen Druck, während jeder unterschwellig spürt, irgendwie will es nicht klappen. Jedenfalls klappt nicht das, was versprochen wird.
Nicht mehr verlorengegangen, sondern angekommen im Irgendwo? Obwohl Nichtseattle spätestens seit "Haus" aus keiner Musikzeitschrift, keinem Feuilleton, keinem Radioprogramm mehr wegzudenken sind!?
Ich für meinen Teil bin auf jeden Fall angekommen, weil ich erkannt habe, dass nichts unendlich Großes auf mich wartet. Aber ja, ich fühle mich durchaus mehr angekommen als früher. Die Suche ist nicht mehr von solcher Dringlichkeit. Aber ich würde nicht sagen, dass das so happyendmäßig ist. Ich könnte mir viel mehr, es ist ein blödes Wort, weil es spießig klingt, aber ein bisschen mehr Sicherheit könnte ich mir durchaus vorstellen in meinem Leben. Wobei das aus meiner Perspektive vermutlich gar nicht spießig ist, weil es den Bereich betrifft, der am schlechtesten aufgestellt ist.
Bernd Gürtler/TM
Nichtseattle
"Haus"
(Staatsakt; 12.04.24)
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