|   Rezension

Joe Jackson

Mr. Joe Jackson Presents: Max Champion In "What A Racket!"

(Ear Music/Edel)

Es wirkt wie ausgedacht, ist es aber nicht und wenn doch gilt, dass die Wahrheit einer guten Geschichte nicht im Wege stehen darf. Laut Presseinfo des Schallplattenlabels jedenfalls handelt es sich beim Protagonisten des Albums um die reale Person eines Vertreters der britischen Music Hall des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Reichlich ein Dutzend handschriftlich überlieferter Songs aus Max Champions Nachlass konnte Joe Jackson ausfindig machen und besorgt in zwölfköpfiger Orchesterbegleitung die Erstkonservierung auf Tonträger, mit einer Ausnahme.

Music Hall war eine Form des Massenentertainments, vom britischen Großstadtproletariat für seinesgleichen erschaffen, dargeboten in Eckkneipen und Varietétheatern als Nummernprogramm aus Artistik, Zauberkunst, Comedy und Songs. Unter denen, die um des Publikums Gunst ringen wollten, dem Vernehmen nach Max Champion. Genügend Zeit, um sich nachhaltig zu etablieren, blieb ihm wahrscheinlich nicht. Geboren 1882 im Londoner Stadtteil Whitechapel, ereilt ihn 1914 in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs an der belgischen Westfront der Soldatentod. Danach verliert sich seine Spur.

Das Material, auf das sich Joe Jackson bei seinem Album "What A Racket!" stützen konnte, stammt aus Zufallsfunden bei Haushaltsauflösungen und Entrümpelungsaktionen. Wenn dort nicht jemand in der Lage gewesen wäre, den unschätzbaren kulturellen Wert gewisser vergilbter Notenblätter zu erkennen, unwiederbringlich verloren wären Max Champions heiter humorvolle, satirisch bissige, melancholisch betrübte, teils mit süffisanter Erotik aufgeladene Erzählungen vom irischen Englandmigranten, der in "Dear Old Mum" der Mutter daheim per Briefpost sein beklagenswertes Schicksal schildert, vom Trennungsschmerz des Seemanns in "Worse Things Happen At Sea", vom Landei, das im Titelsong zu "What A Racket!" verkündet, mit dem stinkenden Londoner Umweltsmog durchaus zurechtzukommen, wenn bloß dieses nervige Menschengetümmel nicht wäre. Einzig das selbsterklärende "The Bishop And The Actress" war irgendwann doch auf 78er Schellack gepresst worden. Zwei Fotografien sind ebenfalls erhalten geblieben.

Bei seinen Einspielungen hält sich Joe Jackson streng an das charakteristische Zirkuskapellentamtam von damals, ohne auf moderne Produktionsmethoden zu verzichten, was früher oder später die Erkenntnis reifen lässt, in welcher Schuld zeitgenössische britische Rockbands gegenüber ihrer angeborenen Populärmusikgeschichte stehen. Die Beatles, die Kinks, die frühen Pink Floyd, XTC oder eben Joe Jackson wären in ihrer besonderen Originalität ohne Music Hall kaum denkbar. Max Champion könnte sich ab sofort in die Ahnenreihe gestellt sehen, beispielsweise neben Namensvetter Harry Champion, dessen "Boiled Beef And Carrots" oder "I'm Henery The Eighth, I Am" zum unveräußerlichen Kulturgut Großbritanniens gehören, letzterer Song gecovert von Hermans Hermits.

Sich eines Projekts wie "What A Racket!" anzunehmen, dafür kommt wahrscheinlich wirklich nur einer infrage. Neben Elvis Costello und Graham Parker wird Joe Jackson als der coolste aus Englands Angry Young Troubadour's Club gehandelt. "What Songs! What Hair! What Shoes!" schwärmt der Trouser Press Record Guide im Zusammenhang mit seinem Debütalbum von 1979, das bezeichnenderweise "Look Sharp!" hieß und die Hitsingle "Is She Really Going Out With Him" abwarf.
Bernd Gürtler/TM


Joe Jackson
"Mr. Joe Jackson Presents: Max Champion In 'What A Racket!'"
(Ear Music/Edel; 24.11.23)


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Max Champion zirka 1911

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