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Dokumentarfilmporträt der vertraulichen Einblicke: Joan Baez in "I Am A Noise"

Sie unterstützt die Bürgerrechtsbewegung, engagiert sich gegen den Vietnamkrieg, nimmt für ihre Überzeugungen sogar eine Haftstrafe in Kauf und reanimiert nebenher traditionelles Liedgut. Mit neunzehn ist Joan Baez berühmt, mit einundzwanzig auf der Titelseite des Time Magazine abgebildet. Hinlänglich bekannt das alles und es hätte sich bequem ein weiteres Mal haargenau so rekapitulieren lassen. Aber die amerikanische Folkikone übergab dem Autorentrio hinter "I Am A Noise" ihr komplettes Privatarchiv zur Auswertung, so dass ein Dokumentarfilmporträt besonderer Art entstand.

Ganz ohne historische Eckpunkte geht es natürlich nicht. "I Am A Noise" zeigt Joan Baez auf einer Bürgerrechtsdemo zwischen James Baldwin und James Forman oder 1963 während der Abschlusskundgebung zum March On Washington am Lincoln Memorial, wo Martin Luther King seine berühmte "I Have A Dream"-Rede hielt und neben ihr Bob Dylan aufgetreten ist. Die beiden sind für eine Weile liiert, sie hilft seiner Karriere entscheidend auf die Sprünge. Sehenswert die Sequenz, wo Bob Dylan, bevor ihm die Bürde der Stimme einer Generation übergeholfen wird, unbeschwert herumalbert. Nach zirka einer halben Stunde wird es das erste Mal richtig interessant. Eine gewisse Kimmi rückt in den Fokus. Die junge Frau eine Jugendliebe von Joan Baez und den Wenigsten aus ihrer Fangemeinde wohl ein Begriff.

Bemerkenswert schonungslos dann verhandelt das schwierige Verhältnis zwischen Joan Baez und ihren beiden Schwestern. Mimi, die jüngere, versucht sich ebenfalls als Sängerin, im Duo mit Richard Fariña, schafft es aber nicht so recht und gibt mehr oder weniger auf, nachdem ihr Lebensgefährte 1966 mit seinem Motorrad tödlich verunglückt. Die ältere Schwester, Pauline, versucht es erst gar nicht mit Musik und widmet sich stattdessen anderen Kunstformen. Die Ehe zwischen Wehrdienstverweigerer David Harris und Joan Baez wird ebenfalls eingehend beleuchtet.

Und schließlich eine Wendung ins Brisante. Joan Baez erzählt, Schwester Mimi hätte ihr berichtet, der Vater sei sexuell übergriffig geworden als er sie als junges Mädchen auf den Mund geküsst habe. Plötzlich kann sich Joan Baez an ein ähnliches Vorkommnis erinnern, ist sich aber nicht endgültig sicher. Das ist die Stelle, an der einem aufgeht, weshalb sie zu Beginn des knapp zweistündigen Streifens davon spricht, wie trügerisch Erinnerung sein kann und das Schlimmste vorsichtshalber vom Unterbewusstsein sowieso ausgeblendet wird. Filmemacherin Karen O’Connor und ihre beiden Mitstreiterinnen Miri Navasky und Maeve O'Boyle konnten für "I Am A Noise" auch auf Audiomitschnitte von Therapiesitzungen zugreifen. Daraus wird kurz Mutter Baez eingeblendet. Sie merkt an, dass Therapeuten ihren Patienten manchmal die Probleme überhaupt erst einreden und ob der Kuss vom Vater nicht einfach nur missverständlich gewesen sei. Gut möglich, entgegnet der Therapeut, wie aber wurde das von der Tochter wahrgenommen?

Weitere handfeste Belege bleibt der Film leider schuldig, was den Zuschauer ratlos zurücklässt. Gilt hier die Regel, dass die Wahrheit das ist, was die Betroffenen empfinden? Immerhin, die, die zur Aufklärung beitragen müssten, können sich nicht mehr äußern. Beide Elternteile sind tot, die beiden Schwestern ebenfalls gestorben. Als Quintessenz bleibt, dass es neben dem Wertekanon des Quäkertums, mit dem Joan Baez aufgewachsen ist und den sie jahrzehntelang als Motivation für ihr gesellschaftliches Engagement nannte, einen weiteren inneren Antrieb gegeben haben könnte, nämlich das Ringen mit Dämonen, deren Ursprung sie sich lange selbst nicht erklären konnte. Zu Ende geht der Film versöhnlich. Joan Baez führt den Hund spazieren und grübelt dem kalifornischen Sonnenuntergang entgegen. "I Am A Noise" ist ein wunderbar gefertigtes, aus Archivmaterial und aktuellen Interviews montiertes Dokumentarfilmporträt der vertraulichen Einblicke. Im Mittelpunkt steht weniger die Musikerin und Aktivistin Joan Baez als vielmehr die Persönlichkeit dahinter.
Bernd Gürtler SAX 1/24


"Joan Baez - I Am A Noise"
(Alamonde Film; 28.12.2023)


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Foto: Magnolia Pictures
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