Zum Interviewtermin in Berlin reisen sie zu dritt an. Manager Or Davidson ist dabei, Bassist und Co-Produzent Nir Maimon und Dudu Tassa selbstverständlich. Obwohl die Hauptperson, ist ausgerechnet er es, der sich selten zu Wort meldet und wenn doch, dann oft auf Hebräisch und seine beiden Begleiter dolmetschen ins Englische. Vermutlich weil er als Mann der Worte, der seine Songs samt der Texte meistenteils selbst schreibt, der Fremdsprache weniger zutraut. Englisch lässt jemandem wie ihm nicht die Nuancen, die es braucht, um sich präzise ausdrücken zu können. Der Eindruck drängt sich jedenfalls auf, und ein Handicap ist es nicht wirklich. Bestens vertraut sind sie alle drei mit dieser Geschichte, die zu glauben schwerfiele, wäre sie nicht durch Querrecherchen verifizierbar.
Belegt ist, dass der Vater von Großvater Daoud und dessen Bruder Saleh, also Dudu Tassas Urgroßvater aus dem irakischen Basra nach Kuwait übersiedelt, um dort mit weiteren fünfzig Familien eine jüdische Gemeinde zu gründen. Seinen Broterwerb bestreitet der Urgroßvater als Matrose der Handelsmarine. Von einer Indienreise bringt er seinen beiden Söhnen eine Violine und eine Oud mit. Die Buben sind damals zehn und acht Jahre alt. Das mit der Musik nehmen sie sehr ernst. Saleh studiert bei arabischen Meistern Oud und Komposition. Sein erster Song heißt „Walla Ajabni Jamalec“ und wird noch heute von Radiostationen der Golfregion eingesetzt. Bereits im Kindesalter erfreuen die Gebrüder Al-Kuwaiti arabische Würdenträger mit ihrer Darbietung. Irakische Schallplattenfirmen werden aufmerksam. Getragen vom Erfolg der talentierten Sprösslinge, kehrt die Familie nach Basra zurück und zieht von dort nach Bagdad, wo Saleh und Daoud sowohl für das irakische Königshaus als auch in diversen Nachtclubs aufspielen. Bis sich 1948 der Staat Israel gründet und buchstäblich über Nacht die arabischen Nachbarn Israel den Krieg erklären.
Von da an wird es für jüdische Menschen ungemütlich in der arabischen Welt. Selbst diejenigen mit arabischen Wurzeln bleiben nicht verschont. Die Al-Kuwaitis verlagern erneut ihren Lebensmittelpunkt, diesmal nach Israel. Unter prekären Umständen freilich, ihr gesamtes Hab und Gut müssen sie in Bagdad zurücklassen und auch die neue Heimat hält allerlei Unschönes bereit. Nach einem Zwischenstopp im Flüchtlingslager von Beer Yaakov lassen sie sich im Hatikva-Viertel von Tel Aviv nieder. Um die Familie über Wasser zu halten, eröffnen Saleh und Daoud Al-Kuwaiti einen Laden für Küchenutensilien. Das Café Noah im Stadtviertel bietet ihnen eine der ganz wenigen Auftrittsmöglichkeiten. Ansonsten findet Musik höchstens noch im Kreis von Familie, Freunden und Nachbarn statt. Oder im Nischenprogramm des Radiosenders The Voice of Israel, der lediglich auf Kurzwelle empfangbar ist. Aber wenigstens bestreiten sie dort regelmäßig eine wöchentliche Radioshow.
Die Nachfolgegeneration sieht in der Musik keine Perspektive. Erst Dudu Tassa, der Enkel, greift den Faden auf und avanciert im Handumdrehen zum Superstar. Als Dreizehnjähriger veröffentlicht er sein erstes Album mit angloamerikanischen Rockaneignungen in hebräischer Sprache. Acht weitere Alben folgen, er schreibt den Eröffnungssong zu Kokhav Nolad („Ein Stern wird geboren“), der israelischen Version von Deutschland sucht den Superstar, verfasst den Soundtrack zu Nati Adlers Kululush. Wie er auf die Musik seiner berühmten Vorfahren gestoßen ist, lässt sich leider nicht genau klären. Ob zufällig auf dem Dachboden entdeckte alte 78er-Schellacks den Anstoß gaben oder das musikalische Erbe ein offenes Familiengeheimnis war, das nur zu passender Gelegenheit beim Schopfe gepackt werden musste – keiner weiß es so genau. 2011 jedenfalls schien die Zeit gekommen. Damals veröffentlichen Dudu Tassa and the Kuwaitis ihr erstes Album mit Neufassungen von Songs aus dem Nachlass der Al-Kuwaiti-Brüder. Ein echtes Wagnis, verrät Manager Or Davidson. Dudu Tassa nämlich wechselt von seiner Muttersprache Hebräisch ins Arabische. „Arabisch galt lange als Sprache des Feindes. Dennoch schaffte es die erste Singleauskopplung ‚Wen Ya Galoub‘ auf die Playlists der wichtigsten Rundfunksender. Das erste Mal, dass im israelischen Mainstreamradio ein Song auf Arabisch läuft!“ Was lediglich als Nebenschauplatz zur Rockkarriere gedacht war, trifft einen Nerv. „Israel war bereit dafür“, fährt Or Davidson fort. „Juden, die aus dem arabischen Raum nach Israel kamen, schämten sich ihrer arabischen Wurzeln. Sie vermieden es, arabisch zu sprechen. Wenn Dudu Tassa Schulfreunde nach Hause mitbrachte und die Mutter hörte arabische Musik im Radio, wurde der Sender weggedreht. Vor zehn, zwölf Jahren änderte sich das. Plötzlich waren die Menschen bereit, sich zu ihrer Herkunft zu bekennen.“
Was nichts Politisches war, springt Dudu Tassa bei, sondern eher „ein gesellschaftliches Phänomen“. Auf dem Fundament der jüdischen Kultur als gemeinsamer Klammer wurde es inzwischen möglich, das Augenmerk auch auf die der Herkunft geschuldeten Unterschiede zu lenken. „Vor sechzig, siebzig Jahren“, übernimmt erneut Or Davidson, „sind jüdische Menschen aus aller Welt nach Israel gezogen. Kaum der Sprache mächtig, hatten sie Beruf und Besitz in der Heimat zurücklassen müssen. Sie sind gezwungen gewesen, sich komplett neu zu erfinden. Hinzu kam, dass Hörfunk, Theater, Film, die gesamte Kultur jahrzehntelang von Europäern dominiert gewesen sind. Entsprechend schwer fiel es auch Menschen mit arabischen Wurzeln, ein neues Selbstverständnis zu entwickeln. Aber Ende der Neunzigerjahre war dieser Prozess abgeschlossen. Heute haben wir bei Konzerten drei Generationen im Publikum: die Großeltern, deren Kinder und die Enkel. Dank Dudu Tassa, dem israelischen Rocksuperstar, bemerken sie, dass die arabische Sprache cool ist.
Nach dem schlicht Dudu Tassa & The Kuwaitis betitelten Debütalbum erscheint 2015 mit Ala Shawati ein zweites Album mit Songs der Gebrüder Saleh und Daoud, gefolgt Anfang 2019 von El Hajar. Die Herangehensweise dort war eine andere, erläutert Nir Maimon. „Bei den beiden Vorgängeralben verwendeten wir vielfach Samples der Originalsongs. Auf El Hajar sind die Stücke von Grund auf neu eingespielt, mit arabischen Instrumenten, aber auch elektrischer Gitarre, Bass, Schlagzeug und Synthesizern. Was westlichen Hörgewohnheiten sehr entgegenkommen dürfte.“ Mehr noch, tatsächlich klingt El Hajar, als hätten Led Zeppelin nicht indische Skalen genutzt, um „Kashmir“ zu schreiben, sondern arabische Harmonien adaptiert. Ein moderner, elektrischer Sound, einfach genial!
Die Songtexte liegen als englische Übersetzung bei und verraten, dass es sich überwiegend um Liebeslieder handelt. Die mit einer zweiten Ebene ausgestattet sind wie im Blues, wo die Klage über eine miserable Behandlung durch den Lebensgefährten oft den Mistkerl von Plantagenbesitzer meint? „Nein, das nicht“, entgegnet Or Davidson. „Aber die Liebeslieder sind an Männer gerichtet. In der arabischen Welt ist es Männern nicht erlaubt, sich direkt an eine Frau zu wenden.“ Sofern es sich nicht um Liebeslieder handelt und die Songs nach der Ankunft in Israel entstanden sind, künden sie davon, wie sehr Saleh und Daoud Al-Kuwaiti Bagdad vermissen. Auf den Titelsong zu El Hajar trifft das beispielsweise zu. Dass sich der Erfolg von Dudu Tassa and the Kuwaitis nicht auf Israel beschränken wird, dafür dürfte schon sorgen, dass die Band 2017 im Vorprogramm von Radiohead auf USA-Tournee war. Die Verbindung besteht, seit Radioheads Jonny Greenwood auf Dudu Tassas sechstem Rockalbum In The End You Get Used To Everything als Gastgitarrist aushalf.
Bernd Gürtler/TM