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Faszination Kamtschatka: Wo der Dresdner Komponist Alexander Morawitz Inspiration findet

Von erfrischender Tatkraft ist das gewesen. Corona machte die Runde im Frühjahr, ein Lockdown wurde verhängt, und die sächsische Residenzmetropole ging zügig mit der Initiative #stayathomeandbecreative an den Start. Künstler, die in Dresden ansässig sind und pandemiebedingt ihre Tätigkeit nicht öffentlich ausüben konnten, sollten ihr kreatives Schaffen per Videoclip dokumentieren. Die besten Clips wurden mit Geldzuwendungen bedacht. Unter den Auserwählten auch Alexander Morawitz mit einer Komposition für präpariertes Klavier zu Fotobildern von seinen Kamtschatkareisen.

Musikalisch ist Alexander Morawitz mehr oder weniger zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Der einstige Sängerknabe im Dresdner Kreuzchor und Absolvent der Kirchenmusikschule Dresden, komponiert heute Kammermusikstücke und Orchesterwerke, sofern nicht als Chorleiter der beiden Vokalensembles Singularis sowie Tritonus unterwegs oder gefragt als Lehrkraft für Klavier, Gesang und Komposition. Dass er in einer Frühphase bei der Jazzpunkformation Dekadance Schlagzeug gespielt hat und im Anschluss unter dem Künstlerpseudonym Electric B zum originellsten Rapper avancierte, den die zu Ende gehende DDR hervorbringen sollte, gilt dem Sechsundfünfzigjährigen inzwischen als Intermezzo, das zweifellos eine Bereicherung war, jedoch keiner ausführlichen Erörterung mehr bedarf. Kamtschatka liefert den willkommenen Gesprächsstoff für unsere Interviewverabredung bei Alexander Morawitz zu Hause am Weißen Hirsch.

Was fasziniert dich an Kamtschatka?
Ich bin in den Alpen, im Trentino wandern gewesen und interessiere mich seither für Vulkanismus. Ein Fotobildband des russischen Landschaftsfotografen Wadim Gippenreiter wies mir den Weg, wohin ich mich wenden muss. Die Halbinsel Kamtschatka im fernen Osten Russlands gilt als ergiebigste Region des explosiven Vulkanismus, mit über dreißig aktiven und mehr als einhundert erloschenen Vulkanen. Im Rahmen einer Zweimannexpedition bin ich 2002 das erste Mal dort gewesen. Der Eindruck war so gewaltig, dass ich nach meiner Rückkehr ein halbes Jahr brauchte, um wieder zu Hause anzukommen. Zur Verarbeitung des Erlebten begann ich, mein Tagebuch schriftstellerisch aufzubereiten. Plötzlich fand ich mich am Klavier und versuchte, dem Instrument mit verschiedenen Präparationen Klänge zu entlocken. Innerhalb weniger Stunden entstanden die ersten drei Stücke.

Wenn du unter dem Eindruck deiner Kamtschatkareisen komponierst, was versuchst du wiederzugeben. Bilder?
Nein, das ist ein Transformationsprozess aus dem unmittelbaren Erleben in der Landschaft, wo sich beim Wandern oder Bergebesteigen eigentlich keine Musik einstellt. Da wir mehrere Wochen wirklich draußen zu Gange sind, im Zelt und ohne Zivilisationsberührung, ist das aber ein außerordentlich intensives Erleben. Wenn ich zurückkehre, befasse ich mich als erstes mit meinen Fotografien, dann mit meinen Tagebuchaufzeichnungen. Sobald ich damit durch bin, stellt sich nicht immer, aber manchmal eine Vorstellung von Klanglichkeit ein, die etwas von dem wiedergibt, was meinen Eindrücken vor Ort entspricht. Das ist kein Umsetzen von Bildern, sondern der Versuch, das, was ich erlebe, in Klänge zu formen, die beim Hörer vielleicht ein ähnliches Erlebnis auslösen wie bei mir. Ob das gelingt, weiß ich gar nicht, weil, wenn ich etwas erlebe und jemand anderes etwas Ähnliches, ist das ähnlich, aber nicht das Gleiche. Insofern kann ich beim Komponieren nur meiner Eingebung folgen. Die Musik muss für sich stehen können.

Der Videoclip aber, den du bei #stayathomeandbecreative unter der Überschrift "Kamtschatka – Musik einer Landschaft für präpariertes Klavier 1, 3, 7-9" eingereicht hattest, verwendet Bildmaterial, sogar aus deinen eigenen Fotobeständen?!
Das stimmt, weil das Problem gewesen wäre, dass man, wenn man nur mir beim Klavierspielen zusehen kann, vielleicht ein, zwei Stücke anschaut und dann die Lust verliert. Mit mir allein wäre der Clip schnell langweilig geworden, fürchte ich.

Wolltest du dich dem präparierten Klavier zuwenden, weil erst das eine adäquate Umsetzung deiner Reiseeindrücke garantiert?
Nicht nur deshalb, ich bin auch von anderen Komponisten beeinflusst. Das Problem ist, dass der Komponist nie ganz frei agiert, sondern immer in einem bestimmten Klangkontext steht. Wer für ein gewöhnliches Klassikinstrumentarium komponiert, wird in dieser Klangwelt denken und sich kaum von Konventionen lösen. Einzelnen gelingt das vielleicht, der Mehrzahl jedenfalls nicht, so dass bestimmte etablierte Spielweisen ständig wiederkehren. Beim Klavier ist das besonders tragisch, weil es keinen charakteristischen Eigenklang hat. Das ist ein Allerweltsinstrument, man kann Orchesterstücke drauf spielen, Klavierstücke, egal was. Das Klavier ist universell einsetzbar und hat keine typische Charakteristik wie das Cembalo, die Oboe, die Orgel. Das Klavier eignet sich überhaupt nicht, um Ungewöhnliches zum Ausdruck zu bringen. Wenn ich Ungewöhnliches erlebe und möchte das in Klänge fassen, bleibt mir beim Klavier, das nun mal mein Vorzugsinstrument ist, nichts anderes als es zu präparieren, weil sich mit konventionellen Spielmethoden nur die üblichen Klavierklänge hervorbringen lassen. Bei meinen Stücken erklingt kein einziger normaler Klavierton.

Welche anderen Komponisten haben dich in Sachen präpariertes Klavier beeinflusst?
Insbesondere der Amerikaner George Crumb, der Anfang der neunziger Jahre im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik auf der Schevenstraße ein Konzert gab. Das hat mich nachhaltig beeindruckt. Zum einen durch die Persönlichkeit George Crumbs, das ist ein einfacher Mann, der im Pullover am Klavier saß. Zum anderen, weil er erzählte, dass er in der Nähe einer Schlucht aufgewachsen sei, wo es ein bestimmtes Echo gab. Das hätte ihn inspiriert, sagte er. Deswegen hat er das Pedal oft auf dem Klavier liegen lassen und die Klänge ausschwingen lassen. Eine Technik, die dem Instrument die harte Kontur nimmt, die durch den Anschlag der Klaviersaiten naturgemäß entsteht und stattdessen dem Klavierklang Weite verschafft. Wenn man dann noch mit präparierten Klängen arbeitet, kann der Klang zu einer ganz eigenen Qualität finden, die nicht mehr an das typische Klavier erinnert.

Erfordern deine Reiseabenteuer nicht auch sorgfältigste Planung?
Unbedingt, das sind umfangreiche Projekte. Man muss vorher wissen, welche Etappen man in welcher Zeit bewältigen kann, benötigt ausreichend Proviant. Andernfalls verschwindet man vielleicht auf Nimmerwiedersehen in der Wildnis!

Seid ihr manchmal wilden Tieren begegnet?
Ja, es gibt Bären, Kamtschatka ist die bärenreichste Gegend der Erde. 2015 sind wir drei Wochen in einem sehr entlegenen Gebiet unterwegs gewesen, da gibt es keine Straßen, keine Wege, nichts. Das ist so weit weg von der Zivilisation, dass wir uns mit dem Hubschrauben hinbringen und wieder abholen lassen mussten. Damals sind wir auf fünfzig Bären getroffen, eine erhebliche Zahl. Ich habe mich mit den Tieren intensiv beschäftigt und Begegnungen mit Bären gehabt, von denen ich tief berührt gewesen bin.

Ein Beispiel bitte!
Einmal wollten wir abends noch zu einem Canyon absteigen. Wir hatten unser Lager schon aufgeschlagen, als plötzlich jemand aus der Gruppe sagte, da kommt ein Bär! Wir sind stehen geblieben, haben geschaut, was er macht. Er kam in unsere Richtung, stutzte etwas, eine Witterung war nicht möglich, der Wind kam aus seiner Richtung. Er konnte uns nicht einordnen, blieb dann stehen, und es dauerte eine ganze Weile, bis er einen Bogen um uns schlug. Wir hatten uns inzwischen hingesetzt, weil, wenn Bären verunsichert sind, nimmt man ihnen die Unsicherheit, indem man sich klein macht. Wir haben abgewartet, bis der Bär zu einer Sänke kam, wo er frisches Gras fressen konnte. Er war fünfzehn Meter von uns entfernt und drehte uns mehrmals den Rücken zu, was ungewöhnlich ist, wenn so ein Tier wirklich Sorge hätte, würde es niemals dem, was ihm Sorge bereitet, den Rücken zuwenden. Das war ein großer Vertrauensbeweis. Nach einer viertel Stunde war er vollgefressen und hat sich sogar zum Schlafen hingelegt.

Das klingt spannend!
Ja, ein andermal sind wir einer Bärenmutter mit ihren Jungen begegnet. Es heißt, dass das ganz gefährlich sei. Stimmt aber nur, wenn man den Jungen oder der Mutter zu nahe kommt. Macht man das nicht, ist dies das Schönste, das einem passieren kann. Die Bärenmutter hat ihre Jungen direkt an unserem Lager vorbeigeführt, so wie als, guckt mal, hier kann man vorbeilaufen, es passiert euch nichts. Das war eine sehr interessante Situation. Und dann haben wir mal eine Bärenmutter gesehen, die vor unseren Augen ihre Jungen gesäugt hat. Das war ein großer Vertrauensbeweis. Es ist aber auch so, dass in Gegenden, wo viele Touristen unterwegs sind, die Gefahren zunehmen, weil sich die Leute völlig unangemessen verhalten. Sie lassen ihren Müll zurück, dadurch werden die Bären zu Opportunisten. Die graben den Müll aus, das ist leichte Kost. Es prägt sich ein bei denen, dass Menschengeruch Essen bedeutet. Das wird zum Problem.

Vielleicht noch ein Wort zu deiner Zeit bei Dekadance beziehungsweise der Rap-Ära als Electric B. Welchen Stellenwert misst du dieser Phase Ende der achtziger Jahre bei?
In meiner persönlichen Erinnerung spielt das kaum noch eine Rolle. Ich verleugne diese Episode nicht, sehe aber, dass das im Verhältnis zum Gesamtleben eigentlich kein großes Gewicht hat. Und zwar auch deshalb nicht, weil Dekadance Bert Steffans Projekt war. Ich habe dort mitgespielt, sehr gern sogar, aber nach einer gewissen Zeit war mir das zu wenig. Musikalisch wollte ich noch etwas anderes. Ich bin schon auch dankbar, dass ich HipHop nicht bloß gehört, sondern auch selbst gemacht habe. Manchmal frage ich mich, wie sich bestimmte Elemente vielleicht in meine heutige Musik übertragen lassen. Aber da bin ich noch auf der Suche. Ganz aus dem Bewusstsein ist das nicht, aber es bekommt eine andere Gewichtung.
Bernd Gürtler SAX 11/20


Das präparierte Klavier: Wer hat's erfunden? Wie gewöhnlich streiten die Gelehrten. Einigkeit besteht höchstens darin, dass es John Cage gewesen ist, der dem präparierten Klavier zum Durchbruch verhalf. Der amerikanische Komponist, ein Vertreter der Neuen Musik, versah die Saiten eines Konzertflügels mit Schrauben, Nägeln, Radiergummis und ähnlichen Alltagsgegenständen, um das Klangspektrum des Instruments zu erweitern. Jeder Komponist arbeitet mit eigenen, genau ausgetüftelten und streng geheimen Präpariermethoden. Zwecklos also bei Alexander Morawitz nachzufragen, welche Kunstkniffe er anwendet. Dass seine Kamtschatka-Kompositionen erst ein einziges Mal live aufgeführt worden sind, erklärt sich aus dem Umstand, dass jedes Stück einer individuellen Präparierung bedarf, wodurch Umbaupausen entstehen, die den Konzertablauf stören. In der zeitgenössischen Populärmusik wurde das präparierte Klavier von Sonic Youth, Hauschka oder Apex Twin eingesetzt. B.G.

Foto: Margit Morawitz
Foto: Margit Morawitz
Foto: Alexander Morawitz
Foto: Alexander Morawitz
Foto: Ingolf Kockisch

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