|   Rezension

Joe Henry

All The Eye Can See

(Ear Music/Edel)

Vorrangig in die Welt gebracht als üppiges, halbakustisches Hörvergnügen. Seine Songs, verriet Joe Henry dem amerikanischen National Public Radio, müssten aus sich heraus wirken, sprich "full of itself" sein, so dass sie buchstäblich aus den Nähten platzen. Gründlich suspekt sei ihm autobiographisches Geschichtenerzählen, das schonungslose Sichpreisgeben in zutiefst persönlicher Tagebuchform. Wer darauf hofft, möge bitteschön anderswo auf die Suche gehen. Er für seinen Teil favorisiere ausgedachte Songfiguren, um deren Geschichten erzählen zu können. Ein durchaus reizvoller Gedanke, mit gewissen Tücken.

Joe Henry nennt als Ideengeber Bob Dylan und Randy Newman, die ebenfalls mit ausgedachten Songfiguren arbeiten oder von Fall zu Fall kurzerhand in die Haut von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens schlüpfen. Bloß konnten die beiden sich mit "Blowin' In The Wind", "Times They Are A-Changin'" oder "Masters Of War" beziehungsweise "Short People" sowie "Rednecks" aus dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext heraus tief ins kollektive Bewusstsein eingraben.

Von welchen Songs kann Joe Henry das behaupten? Einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgeworden ist er eher als Produzent von Bonnie Raitt, Billy Bragg oder Joan Baez. Insofern ziemlich gewagt das nonbiographische Songkonzept.

Aber einleuchtend jetzt wenigstens, weshalb "The Gospel According To Water" von 2019 gar kein Album über seine Krebserkrankung sein konnte, sondern Songs bündelt, die nach seiner Diagnose und während der Genesungsphase entstanden sind.

Genauso wenig ist "All The Eye Can See" ein Album über Corona oder seine Wohnsitzverlegung von Los Angeles nach Harpswell im US-Bundesstaat Maine, obwohl entstanden während der pandemiebedingten Lockdowns und an seinem neuen Lebensmittelpunkt.

Hängen bleiben vereinzelte Songtextzeilen, aus "Pass Through Me Now" beispielsweise "If there’s a heaven or a hell/It’s here and it is now/And if I lived a life before/it knew this one somehow". Der Rest ist Freude an den wunderbaren Arrangements, ausgeführt mit Hilfe hochkarätiger Gastmitstreiter, darunter Marc Ribot, Bill Frisell, Lisa Hannigan und die Milk Carton Kids.

Akkordeon und Bassklarinette drehen "Song That I Know" Richtung Osteuropa, die Fiddle in "Yearling" deutet Richtung Irish Folk. Und wann hat Joe Henry jemals beseelter gesungen? Wann gab es auf einem Songwriteralbum vor dem ersten und letzten Song zur Einstimmung jeweils ein instrumentales "Prelude To Song" beziehungsweise "Prologue Of Song" von solch überirdischer Schönheit?
BG/TM
 


Joe Henry
"All The Eye Can See"
(Ear Music/Edel; 27.1.2023)


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Foto: Jacob Blickenstaff

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