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Jaimie Branch: Dem Jazz den Marsch geblasen

“Some people are born musicians and I am one of those”, ließ Jaimie Branch im Herbst 2018 am Rande eines Auftritts beim Jazzfest Berlin gegenüber der Onlineplattform KaputMag.com verlauten. Biographische Details, soweit verifizierbar, geben kaum Anlass die beherzte Selbsteinschätzung in Zweifel zu ziehen. Ihre Musikbegeisterung ist geweckt, als die Mutter ihr Joni Mitchells "The Circle Game" vorsingt. Die Textzeile "We're captive on the carousel of time/We can't return we can only look behind" findet sie schon als Dreikäsehoch faszinierend und erwählt sie später gewissermaßen zum Künstlercredo.

Die Trompete entdeckt Jaimie Branch im Alter von neun Jahren. Was höchstwahrscheinlich nicht passiert wäre, wenn sie auf Long Island, wo sie 1983 geboren wird, wohnen geblieben wäre. Dann hätte sie vielleicht irgendwas mit Bass gemacht. Aber die Familie zieht nach Chicago, und im Unterschied zu New York gibt es an ihrer dortigen Schule kein Schulorchester. Die Mutter wollte vorzugsweise ihren Wechsel zur Oboe. Sie jedoch bekommt eine Trompete in die Finger und weiß sofort, dass dies das Instrument ihrer Wahl ist. Denn die Trompete, erfuhr KaputMag.com, ist "the closest instrument to the human voice. There are endless ways to inflect the sound. Like with the voice, a note takes on its meaning with inflections and emphasis. A lot can be said without much movement."

Älteren Geschwistern verdankt Jaimie Branch die Bekanntschaft mit Michael Jackson und den Beastie Boys, während die Eltern Barbra Streisand, Perry Como und Elvis Presley bevorzugen. Sie entdeckt Punkrock, steht auf NOFX, muss an der Schule zwischen einem von zwei Grunge-Lagern wählen. Stilsicher entscheidet sie sich für Nirvana anstatt Pearl Jam. Bis ihr schließlich die "'58 Sessions" von Miles Davis, zusammen mit Ornette Colemans "The Shape Of Jazz To Come" das entscheidende Schlüsselerlebnis bescheren, sie in Chicagos Jazzszene eintaucht und ihr die opulente Tradition der Windy City in Sachen Free Jazz bewusst wird.

Ein solides Fundament erhält die musikalische Vorgeschichte durch ein Musikstudium am New England Conservatory in Boston, wo unter anderem das Komponieren mit Hilfe der Notenschrift auf dem Lehrplan steht. Zurück in Chicago, entwickelt Jaimie Branch eine Spielweise, die geprägt ist von Joni Mitchells Songweisheit, dass wir Menschenkinder auf dem Karussell der Zeit gefangen sind und höchstens in die Vergangenheit zurückschauen, jedoch nicht zurückkehren können.

Ihr Free Jazz ist zweifelsfrei als solcher erkennbar, keineswegs aber in einem nostalgischen Sinne sondern orientiert an der Vielfalt, der sie ausgesetzt gewesen ist. Mit einer Quartettbesetzung, ungewöhnlicherweise aus Cello, Bass, Schlagzeug und ihrer Trompete bestehend, changiert Jaimie Branch zwischen freier Improvisation und notierten Passagen, zwischen der Urgewalt des Jazz, dem räudigen Punk, zeitgenössischer Elektronik und charmanten Popmelodien. Was für ein Sound jedenfalls und bestens geeignet, dem Jazz ordentlich den Marsch zu blasen!

Auch das sozialkritische Element, das dem Free Jazz von Anbeginn innewohnt, wird fortgesetzt. Das epische "Prayer For Amerikkka Pt. 1 & 2" sowie "Love Song" 2019 von "Fly Or Die II: Bird Dogs of Paradise", dem Nachfolger zum zwei Jahre älteren und ebenfalls hoch gelobten Albumdebüt "Fly Or Die", sind jeweils eine Breitseite gegen die "wide-eyed racists", die sogar das Weiße Haus erobern konnten und nun mit rassistischen Abfälligkeiten einen Keil in die Gesellschaft treiben. Unweigerlich muss man an Frank Zappas Livedoppelalbum "Roxy & Elsewhere" denken, das eins seiner berühmtesten Bonmots für die Ewigkeit festhält. "Jazz is not dead, it just smells funny", kalauerte der amerikanische Bürgerschreck bei einer Zwischenmoderation. Bestätigung kommt aktuell auch aus London, wo der regelmäßig todgesagte Jazz gerade ein Revival erlebt, das überhaupt nicht streng riecht, sondern im Gegenteil solche Wellen schlägt, dass das britische Mojo Magazine von einer "UK Jazz Explosion" schwärmt und Bands der Stunde wie Sons Of Kemet, The Comet Is Coming oder Nérija bejubelt. Möglich wurde es durch veränderte und anfangs als kontraproduktiv empfundene Rahmenbedingungen für das Londoner Gastrogewerbe. Bars und Kneipen, die am Wochenende akustische Jazzduos auftreten ließen, sollten 2004 plötzlich eine zusätzliche Livemusiklizenz erwerben. Viele dachten gar nicht daran, so dass die Musiker nach anderen Spielorten Ausschau hielten und dort auf ein anderes, zumeist jüngeres Publikum trafen, das eher unterhalten werden, anstatt mit Kennermine fachsimpeln wollte.

In den Vereinigten Staaten profitiert Jaimie Branch von der Association For The Advancement Of Creative Musicians, einem 1965 gegründeten, afroamerikanischen Künstlerkollektiv, das für Auftrittsmöglichkeiten sorgt und die Kontaktpflege innerhalb der Szene fördert. Und Jaimie Branch kann sich auf ihr rühriges Schallplattenlabel International Anthem verlassen, das sich in kürzester Zeit einen bemerkenswerten Katalog erarbeitet hat. Besondere Beachtung schenken sollte man Jaimie Branchs Gastsänger auf "Fly Or Die II", Ben LeMar Gay. Die beiden Alben, die der Mann unter eigenem Namen ("East Of The Ryan") sowie als Freddie Douggie ("Live On Juneteenth") über die Bandcamp-Seite von International Anthem digital veröffentlicht hat, sind ebenfalls mehr als grandios.
Bernd Gürtler SAX 1/20


Jaimie Branch: "Fly Or Die" (International Anthem; 5.5.2017)
Jaimie Branch: "Fly Or Die II-Bird Dogs Of Paradise" (International Anthem; 11.10.2019)


Jaimie Branch im Netz 
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Foto: Dawid Laskowski
Foto: Dawid Laskowski
Foto: Fabrice Bourgelle

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