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International Music: Mit ihrem facettenreichen, jüngsten Album "1% Juice" pflegen Wayne Graham transatlantische Bündnisse

Angenommen Donald Trump wäre ein Advokat der Globalisierungsverlierer gewesen, wie er vorgab es zu sein, rechtfertigt das seinen Politikstil? Seinen Hass, seine Hetze, seine Verhöhnung demokratischer Grundwerte? Eine überdeutliche Mehrheit wahlberechtigter Amerikaner schien im Herbst 2020 genau davon überzeugt und wollte nichts lieber als einer zweiten Amtszeit zum Erfolg verhelfen. Unfassbar! Dem Entsetzen, das sich angesichts dessen breitmachte, hielten Wayne Graham ihr "1% Juice" (K&F) entgegen, ein Album, das transatlantische Bündnisse pflegt und in seinem Facettenreichtum so gar nicht dem Albumtitel entspricht.

Nach "Mexico" von 2016 ist "1% Juice" das dritte Album, das Wayne Graham aus Whitesburg, Kentucky beim feinen, kleinen Dresdner Schallplattenlabel K&F Records veröffentlichen und der Nachfolger zu "Joy!", das 2018 in den Kritikercharts der deutschen Ausgabe des US-Musikmagazins Rolling Stone mehrere Wochen auf Platz eins gelistet war. Als Sessionmitstreiter konnten erneut die beiden ostdeutschen Meistermusikanten Ludwig Bauer und Johannes Till gewonnen werden. Die Interviewverabredung per Skype bestreiten Kenny und Hayden Miles, das Brüdergespann im kreativen Zentrum der Band, gemeinsam.

"1% Juice" sprüht vor Einfallsreichtum, wohingegen der Albumtitel an eine Werbung für minderwertigen Fruchtsaft erinnert. Weshalb diese scharfe Diskrepanz?
Hayden Miles: Das Etikett einer Limonade, die einer von uns sich während der Albumeinspielung gönnte, nannte als Zutat ein Prozent Saft. Wir dachten, ein Prozent Saftanteil? Kaum der Rede wert, und Kenny meinte, das wäre doch ein witziger Albumtitel!
Kenny Miles: "1% Juice" eignet sich hervorragend als Beschreibung für etwas, das nicht ist, was es zu sein scheint.

Hat es eine besondere Bewandtnis, dass als erster Vorabsong "Infinitude" aus dem Album ausgekoppelt wurde? Stehen Albumtitel und Song in irgendeiner Beziehung?
Kenny Miles: Falls es einen Zusammenhang geben sollte, dann repräsentiert der Song das Gegenteil des gegenüberliegenden Spektrums. "Infinitude" ist hoffnungsvoll. Das Album hat mehrere helle Momente, aber das ist einer, den wir als unbedingt aufmunternd empfinden.

Laut Presseinfo eures Schallplattenlabels beruht der Song auf einer bei Gospelsongs üblichen Akkordfolge.
Kenny Miles: Ja, ich wollte dasselbe Kribbeln erzeugen, das Gospelsongs bei mir erzeugen. Anders allerdings, mit einem Vokabular, das mir entspricht. Ich wollte eine hoffnungsvolle Botschaft aussenden, egal wie das beim Hörer ankommt.

Euer Vater ist Pastor, was bedeuten euch Religion und Spiritualität?
Kenny Miles: Das ändert sich ständig. Was sich aber niemals ändert, ist mein Bedürfnis, die Dinge klarer zu sehen. Derzeit bin ich der Überzeugung, dass ein spirituelles Leben mich leiten könnte, egal ob es einen tieferen Lebenssinn gibt oder nicht. Über kurz oder lang werde ich an diesen tieferen Sinn glauben müssen, um funktionieren zu können. Gerade wegen meines kreativen Schaffens muss ich an etwas Bedeutungsvolleres glauben. Im Moment steht es fünfzig-fünfzig, dass es das gibt für mich.

Der Videoclip zu "Infinitude" entstand in einer Kirche. Derselben, wo euer Vater Pastor ist und ihr mit Musikmachen begonnen habt?
Kenny Miles: Ja, das ist die Kirche, ein beeindruckendes Bauwerk. Wir schätzen uns glücklich, dass wir dort drehen durften. Unser Vater begann in der Kirche aus dem Video einen Samstagabendgottesdienst, mit moderner Musik anstatt mit Chor, Orgel und den üblichen Kirchenliedern. Er engagierte uns als Rockband. Älteren Gemeindemitgliedern gefiel das gar nicht, deshalb gründete unser Vater seine eigene Kirche.
Heyden Miles: Heute ist er Kantor einer Kirche im Nachbarcounty, fünfundvierzig Autominuten von Whitesburg entfernt.

Die Gegend um eure Heimatstadt, Kentucky generell, gilt als bedeutendes Kohlerevier. Donald Trump hatte im Wahlkampf 2016 versprochen, die durch Barak Obamas Regierung verordneten Umweltauflagen zurückzunehmen und den Kohlebergbau zu reaktivieren. Was ist daraus geworden?
Kenny Miles: Kohle ist kein Thema mehr. Die letzte Bergbaufirma, die in die Gegend kam, das sind die üblichen Gierschlundkapitalisten gewesen, ausschließlich daran interessiert, maximalen Profit zu generieren. Sogar die Löhne blieben sie schuldig. Als die Bergarbeiter im lokalen Grocery Store ihre Lohnschecks einlösen wollten, stellte sich raus, die Schecks sind nicht gedeckt! Für Umweltschänden kommen solche Unternehmen sowieso nicht auf, die denken gar nicht daran. Bei uns in Harlan County kam es zu Protesten, Bergleute blockierten die Eisenbahngleise, auf denen die Kohle abtransportiert wurde. Hat aber auch nichts gebracht. Mittlerweile will gar keiner mehr Bergbau betreiben. Die Companies wissen, das ist Zeitverschwendung. Es lohnt nicht, und ständig droht juristischer Ärger.

Der Eröffnungssong zu "1% Juice" heißt "Tapestry Of Time" und besagt, dass das Geflecht der Zeit gewebt ist aus "The things you don’t expect/The things you can’t forget/The things that are not easy to accept". Als einziges bleibt uns "can’t help but look ahead with delight at whatever’s coming next." Ein weiterer heller Quasigospelsong?
Kenny Miles: Richtig.

Ein Song auch, demzufolge die Donald Trumps dieser Welt aufs große Ganze gesehen lediglich Fußnoten der Geschichte sind, die sich von selbst erledigen? Jederzeit gilt, das Beste liegt immer noch vor uns?!
Kenny Miles: Könnte man so sehen, ja.

Das auf "Tapestry Of Time" folgende "Chifferobe" verwendet ein kaum gebräuchliches Wort für Kleiderschrank, das durch Harper Lee und ihren Roman "To Kill A Mockingbird" Berühmtheit erlangte. Warum kommt es bei euch zum Einsatz?
Kenny Miles: Der einzige Grund ist, dass das ein Wort ist, das ich in meiner Kindheit häufiger hörte und jetzt nicht mehr. Ich bin Anfang dreißig, hinter mir liegt eine Lebenssituation, die es mir unmöglich machte, meine Kleidung sorgsam zu verstauen. Davon handelt der Song. Ein hübscher Gedanke, um ein Wort zu benutzen, das vom Aussterben bedroht ist.

Harper Lees Roman "To Kill A Mockingbird" widmet sich unter anderem der Rassendiskriminierung in den amerikanischen Südstaaten. Ein Thema, das durch Black Lives Matter gerade wieder an Fahrt gewonnen hat. Wie steht ihr dazu?
Kenny Miles: Wir sind rückhaltlose Unterstützer von Black Lives Matter. Meine Frau und ich haben an Kundgebungen teilgenommen, natürlich unsicher, was wir als Außenstehende tun können, abgesehen davon, Präsenz zu zeigen. Rassismus ist in den USA zweifellos systemisch und berührt zudem die Klassengesellschaft. Unterprivilegierte Bevölkerungsschichten werden gegeneinander aufgewiegelt, so dass es ihnen kaum gelingt, sich eine bessere Zukunft zu organisieren.

Wie hat sich eure Musik durch die Beiträge von Ludwig Bauer und Johannes Till verändert? Beide sind keine Amerikaner, sie kommen aus einem vollkommen anderen kulturellen Background?!
Hayden Miles: Sie sind nur zu unserem Besten. Jedes Mal wenn wir einen unserer Songs von ihnen zurückbekommen, ist das eine Bereicherung. Die beiden sind wunderbare Musiker. Sie wissen ganz genau, was ein Song braucht. Sie scheinen überhaupt nicht fähig, falsche Entscheidungen zu treffen, wenn es um Musik geht. Als "Infinitude" zurückkam, mit den Bläsern, das war, du lieber Gott, als würde man einer anderen Band zuhören.

"Some Days", der letzte Song des Albums, geschrieben von Hayden, scheint das Gegenstück zum Eröffnungssong zu sein, sozusagen ein Bookend zu "Tapestry Of Time".
Hayden Miles: Das geht zurück auf eine biblische Geschichte aus den Evangelien des Neuen Testaments um Jesus und Petrus. Die Idee ist, dass es Tage gibt, die wir nicht mögen, Wege gibt, die wir nicht einschlagen wollen. Jeder kennt das, aber es liegt eine Freiheit, ein Frieden darin anzuerkennen, dass nicht jeder Tag ein guter Tag sein kann. Und klar, sicherlich nicht bewusst, aber das könnte ein Bookend zu "Tapestry Of Time" sein. Die meisten Songs sind bereits im Frühjahr fertigt geschrieben gewesen, könnten zum Jahresende aber an Gewicht gewinnen, angesichts Covid-19 und alles anderen.
Bernd Gürtler SAX 12/20


Wayne Graham
"1% Juice"
(K&F; 6.11.2020)


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Foto: Melissa Stil
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