|   Beitrag

"Es klingt schon sehr authentisch": Kaltfront veröffentlichen historische Konzerte

Hätten einschlägige Presseorgane der DDR wie Neues Leben, Armeerundschau oder NBI wohl doch nicht den spöttischen Unterton mancher Westmedien übernehmen sollen, als Punkrock Mitte der siebziger Jahre aus London und New York herübergeschwappt ist. Bei jeder neuen Rockform seit Elvis Presley und den Beatles wiederholten sie denselben Fehler, mit dem immer gleichen Ergebnis. Jugendliche in der DDR sind nur noch mehr angetan gewesen, mit dem Unterschied, dass sich Punk wegen seiner Do It Yourself-Ästhetik weitaus schneller verbreitet hat.

Es brauchte nicht viel. Kein horrend teures, meist halblegal importiertes Westequipment. Keine ausgefeilte Spieltechnik. Eins, zwei, drei und los ging’s. Mit den berühmten drei Akkorden für ein Halleluja konnte jeder die Welt erobern. Zur Verbreitung unter der Hand reichten Kassettenmitschnitte räudigster Klangqualität. Hört man das mit dem Abstand der Jahre, meint man, Höhlenmenschen beim Streit um die Jagdbeute zu ertappen. Umwerfend dennoch der Enthusiasmus, der sich nach wie vor vermittelt.

Eine Punkszene gab es auch in Dresden, der sächsischen Hochburg des Barock. Die CD-Retrospektive „Im Schatten der Großstadt – Punk in Dresden 1982-1989“ umfasst elf Formationen. Das Spektrum reicht von den zornigen Paranoia über den skurrilen Hortel bis hin zu einem gemischten Doppel namens Letzte Diagnose. „Eskimos im Frack marschieren übers Eis/ Sie erfrieren sich den Sack, Fortschritt hat seinen Preis“, heißt es in einem ihrer Songs. Erinnert schwer an Grauzones "Eisbär". Trotzdem, selten so gelacht.

Was aus den Protagonisten von damals geworden ist? Paranoia-Bassist Jörg Löffler gründete später Kaltfront, die sich im Wendeherbst zusammen mit der DDR vorerst auch in Wohlgefallen auflösen sollten, weil zwei Mitglieder spontan die neue Reisefreiheit nutzen mussten. Dann aber reformiert wurden, seither mehrere Umbesetzungen erlebt haben und weiterhin aktiv sind. Den Grölpunk für die Stadionkurve überlassen sie großzügig den Toten Hosen. Jüngere Songs betreiben eine subtilere Auseinandersetzung mit der aktuellen Lebenswirklichkeit. Inzwischen wortgewandter, bekommt der Biedermann den Stinkefinger gezeigt.

Ende Dezember 2018 erschien eine Neuauflage von "Live 1988" (Rundling), diesmal mit sämtlichen Songs eines Konzertauftritts in Onkel Tom's Hütte in Cottbus. Das vinyle Doppelalbum versteht sich als historisches Dokument. Eines, für das sich die Band allerdings nicht schämen muss. Im Gegenteil, Jörg Löffler war selbst überrascht. "Normalerweise", zitiert ihn das Webmagazin Crazy United, "höre ich mir den alten Kram nicht mehr an. Aber im Vorbereitungsprozess zu der Vinylproduktion, war ich dazu mehr oder weniger gezwungen. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich überrascht war, wie kraftvoll dreckig das klingt. Teilweise wildes Chaos. Da haben wir anscheinend so befreit aufgespielt, dass manchmal keiner mehr wusste, was der andere gerade macht. Aber irgendwie kriegen wir immer die Kurve. Es klingt schon sehr authentisch." Das Material wurde nochmals klanglich überarbeitet, und als Bonus gibt es vier Stücke eines Radiokonzerts für den DDR-Jugendsender DT64, mitgeschnitten im Gasthof Vier Linden in Görlitz. Wer wissen will, wie Kaltfront heute klingen, kann das auf dem 2017 veröffentlichten, bislang letzten Studioalbum "Wenn es dunkel wird" (Rundling) nachvollziehen. Das Reggaefinale von "Tot wie Spielzeug" erinnert nicht nur daran, dass Punkrock und Reggae dereinst eine Allianz bildeten. Es deutet auch in eine Richtung, in die sich die Band weiterentwickeln könnte.
Bernd Gürtler SAX 12/18


Kaltfront
"Live 1988"
(Rundling; 12/2018)


Kaltfront im Netz
Bandcamp | Facebook | Instagram | Rundling

Foto: Marios Karapanos
Foto: Marios Karapanos

neue Beiträge