Sinnigerweise orientiert sich die Songchronologie am ewigen Kreislauf der Jahreszeiten. Das eröffnende "Hear The Bells" betrifft den Day Of The Dead in Tucson, Arizona, übernommen aus dem Mexikanischen, dort Día de los Muertos heißend und begangen Anfang November zwischen dem katholischen Allerheiligen und Allerseelen. Eine anrührende Festivität zum Gedenken an die Verstorbenen, schwärmt Joey Burns. "Es wird einem ins Bewusstsein gerufen, dass das Leben vergänglich ist. Lasst uns also das Beste daraus machen, jeder Augenblick zählt! Mein Song versteht sich als Hommage an Tucson. Ich nenne Plätze, die mir etwas bedeuten, wie der Taproom, eine Bar im Hotel Congress. Es geht darum, dass Menschen zusammenfinden, gemeinsam singen, den Verlust einer geliebten Person betrauern. Ich will den Gedanken nahebringen, dass eine Notwendigkeit besteht, sich sein Zuhause zu schaffen, egal ob es sich um einen Platz oder eine Stadt handelt. In erster Linie natürlich finden wir ein Zuhause in uns selbst, zwischen uns, zwischen unseren Herzen".
Direkt im Anschluss mit Tom Pettys "Christmas All Over Again" der erste ausdrückliche Hinweis auf Weihnachten. Gefolgt von "Mi Burrito Sabanero", einem in Mexiko sehr gemochten Weihnachtslied aus der Feder des Venezuelaners Hugo Blanco, von Calexico eingesungen mit Gaby Moreno aus Guatemala. Beide Songs sind zwei der insgesamt drei Coverversionen auf "Seasonal Shift", neben John Lennon/Yoko Onos "Happy X-Mas (War Is Over)", das Joey Burns woher kennt? "Aus dem Radio. Ich bin in Los Angeles aufgewachsen, und jeden Dezember brachte dieser eine Sender die Christmas Records, die die Beatles von 1963 bis 1969 an die Mitglieder ihres Fanclubs verschickt hatten. Unfassbar komische Blödeleien! Das überspielte ich mir auf Tonband und hörte es rauf und runter. 'Happy X-Mas (War Is Over)' stand seit Veröffentlichung 1971 auch immer auf der Playlist."
Der Lennon/Ono-Klassiker war als erster eingespielt worden, und nach der ursprünglichen Intention des Labels sollte es dabei bleiben, ein komplettes Album stand anfangs gar nicht zur Debatte. Bis das Coronavirus den weltweiten Musikbetrieb nahezu vollständig zum Erliegen brachte, plötzlich Überkapazitäten an freier Zeit bewältigt werden mussten und die Studioarbeit ein unerwartetes Vergnügen bereitete. "Zunächst erweiterten wir auf eine Weihnachts-EP mit vier Songs, hätten dann bestimmt aber Material für ein Doppelalbum zusammenbekommen, wäre uns nicht vom Label ein strikter Abgabetermin gesetzt worden", gesteht Joey Burns.
Mit "Heart Of Downtown" sollte sich am Ende sogar eine bislang unbekannte Facette im Calexicoschen Klangkosmos etablieren lassen. Der Song beruht auf einem musikalischen Thema, das geloopt wurde. Was außergewöhnlich sei für ihn, verrät Joey Burns. "Normalerweise beginne ich mit Akkorden und einem Rhythmus. Aber ich fand den anderen Ansatz spannend, wir konnten etwas Neues ausprobieren. Als wir ein Grundgerüst vorliegen hatten, meinte unser Calexico-Mitstreiter Sergio Mendoza, wir könnten doch einen seiner afrikanischen Musikerfreunde kontaktieren, Omara Bombino Moctar, einen Sänger und Songschreiber der Tuareg, der in Niger lebt. Wir schickten ihm den Song, in der Hoffnung, dass er sich auf eine Kollaboration einlassen würde. Zum Glück klappte es. Geschrieben hatte ich den Songtext im Juli 2020, lange vor den Präsidentschaftswahlen in den USA als meine Antwort auf die Ermordung von George Floyd und Black Lives Matter. Ich dachte, egal wie extrem unterschiedlich die Weltanschauungen sein mögen, es besteht Hoffnung, für jeden von uns, nicht nur in den USA. 'Heart Of Downtown' korrespondiert hervorragend mit 'Happy X-Mas (War Is Over)', beide beschwören den Gemeinschaftssinn. Das gesamte Album dreht sich darum, dass wir ungeachtet der Hautfarbe, ungeachtet der sozialen Herkunft, ungeachtet der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, der politischen Überzeugungen einen gemeinsamen Nenner finden müssen. Musik hat die Kraft, Menschen zusammenzubringen. Im Refrain sage ich, lasst uns nicht bis morgen warten, lasst uns heute Nacht beginnen. Mir scheint das dringender denn je."
Die Interviewatmosphäre ist ausgesprochen herzlich. Nicht nur aus Freude über die Abwechslung zum Lockdowneinerlei, über den Kontakt nach Europa, dem Kontinent, dem Calexico ganz wesentlich ihre Karriere verdanken. Generell entspricht es dem Wesen der Band, dass sie anstatt Gräben zu vertiefen unbedingt Brücken baut, ein kollektives Wir zum Klingen bringt. Es ist kein raffinierter Werbegag, wenn Joey Burns von Verständigung und Ausgleich spricht. Oder "Mi Burrito Sabanero" zum Abschluss von "Seasonal Shift" als Reprise zurückkehrt und sowohl sämtliche Gastmitstreiter des Albums als auch die Mitglieder von Calexicos europäischer Tourcrew, eine bunte Truppe aus Holländern, Franzosen, Deutschen, Gelegenheit bekommt, einen individuellen Beitrag hinzuzufügen.
Bliebe noch zu klären, wie Joey Burns das Weihnachtsfest begeht? Auf jeden Fall unter strikter Einhaltung der Hygieneregeln, versichert er. "Wir nehmen das sehr ernst, tragen Maske, halten Abstand. Noch sind wir verschont geblieben, wissen aber, dass die Krankenhäuser der Gegend überfüllt sind." Ansonsten wird "viel gekocht, viel gegessen. Wir sind da für die Kinder, gehen raus in die Natur. Als Musiker bin ich das Jahr über normalerweise viel unterwegs, deshalb verbringen wir Weihnachten meist zu Hause." Und wo ist das, Zuhause? In Tucson, Arizona? "Nein, in Idaho." Wie bitte? "Das dürfte die Nachricht des Tages sein, wir sind nach Idaho gezogen!" Kaum zu glauben, Calexico kehren der Stadt den Rücken, von wo das Kernduo aus Joey Burns und Schlagzeuger John Convertino 1996 gestartet ist und der sie ihren charakteristischen TexMex/Mariachi-Sound der Anfangsjahre verdanken. Aber warum sind sie weggezogen? "Wir wollten näher bei der Familie meiner Frau sein, dass die Kinder näher bei ihren Tanten, den Großeltern sind. Wir haben hier auch Wüste, keine Flachlandwüste wie in Arizona, aber eine Hochlandwüste. Und wir haben Bäume, einen Fluss, den Boise River, der sogar Wasser führt. Man hat deutlich mehr Möglichkeiten. Nichtsdestotrotz bleiben wir Tucson verbunden. Wir denken nahezu täglich an die Stadt und lassen uns von Freunden Fresspakete mit Hot Sauce, Tamales und Tortillas schicken. Im Gegenzug schicken wir Heidelbeermarmelade." Bernd Gürtler SAX 1/21
Calexico
"Seasonal Shift"
(CitySlang; 4.12.2020)
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