Unsere Interviewverabredung in Leipzig, wo der gebürtige Hallenser lebt, arbeitet und ein eigenes Tonstudio betreibt, drehte sich zu Beginn darum, wie er es bloß anstellt, dass die Songs auf "Transit" von derartiger Vielgestaltigkeit sind. Die Quintessenz der eher theoretischen Fachsimpelei lautet, dass die Songtexte sich intuitiv die jeweils nächste Songtextzeile selbst suchen durften, denn konkrete Botschaften zu verschicken stand nicht zur Debatte. Musik und Songtexte gingen eine Symbiose ein, wie von Geisterhand gelenkt, ohne großes Zutun seinerseits.
Ein besonders empfehlenswertes Beispiel? "Rosa Luft" vielleicht, das mit der Textzeile eröffnet "Du lachst im Schlaf/Du weckst mich auf". Später im Refrain heißt es "Du träumst nicht das, was war/Du träumst für uns rosa Luft am Rande der Zeit", währenddessen die Musik den Songtext spiralförmig in luftige Höhen führt und die Hörerschaft nach dem letzten Wort für eine längere Instrumentalpassage mit ihrer Grübelei, was der Künstler wohl soeben mitteilen wollte, allein zurücklässt. Wirklich faszinierend, ein Song, der etwas mit einem macht!
Florian Sievers freut so viel Begeisterungsfähigkeit. "Finde ich schön, wie du das beschreibst, gefällt mir", entgegnet er. Woher die Anregung für "Rosa Luft" kam, wäre interessant zu wissen.
"Der Song ist einer von denen, die auch für mich immer noch angenehme Deutungsspielräume, immer noch etwas Geheimnisvolles bereithalten. Die Anregung fand sich, wenn ich mich recht entsinne, in einem Ausstellungskatalog zu Wasja Götze. Im Begleittext verwendete jemand zur Beschreibung seiner Bilder, die ich sehr mag, 'Rosa Luft' als Attribut. Die Beschreibung war für mich zuerst nicht greifbar, aber ich dachte, immerhin, es erzeugt ein interessantes Gefühl. Als nächstes fragte ich mich, was steckt drin in dem Gefühl, und in dem Moment kam mir ein Fotobildband zu Hilfe, mit dem Titel 'Am Rande der Zeit', von Roger Melis, der nach meiner Erinnerung zu DDR-Zeiten Künstlerporträts angefertigt hat. Ich glaube aber, dass dieser Bildband, an dem ich kurz hängengeblieben bin, dass der Alltagsfotografien aus der DDR enthielt. Ich mochte jedenfalls den Titel, weil darin die Frage mitschwingt, wann ist jetzt, wann ist gerade eben und wann ist gleich. Der Song versucht sich an einer Antwort, die rosa Luft ist in der Mitte als Sinnbild für das Nichtgreifbare platziert."
Solche komplexen Überlegungen gehen Florian Sievers durch den Kopf, wenn er mitten in der Nacht geweckt wird, weil die, die neben ihm liegt, im Schlaf lacht?
"Meine Songs sind Fiktion, die Songtexte nicht autobiographisch, das lyrische Ich bin nicht ich. Wer kreativ ist weiß, dass sich die Herkunft von Anregungen oft gar nicht mehr genau nachvollziehen lässt. Ein spannender Gedanke, wie sehr darf sich der Künstler verantwortlich fühlen zum Beispiel für Songtextzeilen wie die in 'Rosa Luft'. Ich vermute, dass eine Menge unbewusst geschieht, man selbst weitaus weniger aktiv mitwirkt als man denkt."
Etwas später, bei "Verkleidet als Mensch", unterbricht sein Album das Wohlfühlprogramm. Der Songprotagonist lebt offenbar in einer Beziehung und muss irgendwann entsetzt feststellen, dass er mehr von seinem Gegenüber geprägt ist als umgekehrt. Wäre es okay, den Song so zu interpretieren?
"Okay auf jeden Fall, aber wie gesagt, vielleicht sind die Songs auf 'Transit' der zaghafte Versuch, sich an Gefühle, an Empfindungen heranzutasten, die im Unbewussten liegen, und auszuloten, wie das Unbewusste uns und unsere Umgebung prägt. Darum geht es vielleicht auch in 'Verkleidet als Mensch', dass wir geprägt sind von Dingen, derer wir uns gar nicht gegenwärtig sind, und dass daraus manchmal Reibungen entstehen, die für uns schwer auflösbar sind. Vielleicht ist es das, ich lasse es mal so stehen."
Cineasten werden bei "Verkleidet als Mensch" sicherlich an "Ich bin dein Mensch" denken müssen, den Spielfilmerfolg von Regisseurin Maria Schrader über eine Frau im Berlin der nahen Zukunft, die sich einen auf ihre Wünsche hin programmierten Traummann aus der Retorte zulegt. Im Laufe des Films entwickelt die Retortenkreatur ein Eigenleben und sucht das Weite. Florian Sievers kannte den Streifen noch gar nicht, will ihn sich aber unbedingt anschauen.
Und wer schon gespannt auf das von ihm als Herausgeber mitverantwortete Tributealbum zum DDR-Troubadour Manfred Krug wartet, mit Beiträgen unter anderem von Moritz Krämer und Das Paradies, die gute Nachricht ist, die Scheibe ist fertig und wird sehr bald erscheinen.
Bernd Gürtler SAX 9/22
Das Paradies
"Transit"
(Grönland; 3.6.2022)
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