|   Rezension

Beth Gibbons

Lives Outgrown

(Domino)

Kein Wunder, dass das gedauert hat. Beth Gibbons wollte ein Höchstmaß an Unverwechselbarkeit als sich abzeichnete, dass ihr nächstes Albumprojekt auf etwas Besonderes hinausläuft. Was mit der Entwicklung eines individuellen Schlagzeugsounds begann, beschert der nach wie vor amtierenden Sängerin von Portishead die erste richtige Soloveröffentlichung zweiundzwanzig beziehungsweise fünf Jahre nach "Out Of Reach" sowie "Henryk Górecki: Symphony No. 3 (Symphony Of Sorrowful Songs)".

Einigermaßen zu tun gab es immer. Seit 1994 sind Soundtrackbeiträge unter anderem zu Cédric Klapischs "Russian Dolls" oder Julie Taymors "The Tempest" angefallen, wurden Duettpartnerschaften mit Jane Birkin, Annie Lennox oder Kendrick Lamar eingegangen, ein Beitrag zu "Monsieur Gainsbourg Revisited" bewältigt. Auf Einladung der britischen Stonermetaller Gongar entstand die Coverversion des Titelstücks zum nach der Band benannten Debütalbum von Black Sabbath. Anfang Mai 2022 mit Portishead ein Benefizauftritt in der O2 Academy von Bristol, veranstaltet von War Child UK zugunsten ukrainischer Flüchtlingskinder. Aber "Out Of Season", ihr Duoalbum mit Rustin Man aka Paul Webb von Talk Talk, stellt den inzwischen deutlich fragileren Gesang in einen Kontext wie aus dem traditionell Folk oder von Singer/Songwritern bekannt. Bei "Henryk Górecki: Symphony No. 3 (Symphony Of Sorrowful Songs)" leiht sie ihre Stimme dem Polish National Radio Symphony Orchestra.

"Lives Outgrown" sollte nichts dergleichen bedienen und auch die Breakbeats von Portishead vermeidet. Deshalb konzentriert sich die gesamte Aufmerksamkeit zunächst auf das Schlagzeug, das schlussendlich aus einer Paellapfanne, Metallblechen, einer rindsledernen Wasserflasche und einem Pappkarton mit ausrangierten Bettlaken bestand und gespielt von Lee Harris, ebenfalls früher Mitglied bei Talk Talk sowie Produzent von "Lives Outgrown", weniger den Beat hält, als Gesang und Akustikgitarre einbettet. Das Ergebnis so substanziell, dass später Dulcimer, Vibraphon, Hammond Orgel, Flöte, Cello, Double Bass und Pedal Steel hinzukommen konnten, ohne die Extravaganz zu verwässern. Spektakulär die Klangwelt des Albums! Anvertraut den zehn Songs, wie die Künstlerin sich fühlt in der Mitte ihres Lebens, nachdem enge Freunde und Familienangehörige gestorben sind, Frieden mit eigenen Unzulänglichkeiten, mit unerfüllten Träumen geschlossen wurde, die Menopause bewältigt ist, die Beth Gibbons laut Presseinfo des Schallplattenlabels als "a massive comedown which cuts you at the knees" beschreibt, der die eigene Sterblichkeit vor Augen führt.
Bernd Gürtler/TM


Beth Gibbons
"Lives Outgrown"
(Domino; 17.5.24)


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Foto: Netti Habel

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