|   Rezension

Villagers

That Golden Time

(Domino)

Schlag nach bei Nietzsche! Gewiss würde Conor O'Brien ohne Zögern zustimmen, das sechste Studioalbum seiner Projektformation Villagers nimmt Bezug auf geisteswissenschaftliche Erkenntnisleistungen des streitbaren Philosophen. Mehr noch, der gebürtige Ire mit Herkunftsort Dublin scheint eine Schicksalsverwandtschaft andeuten zu wollen. Vollkommen aus der Luft gegriffen wäre es nicht, möglicher Anhaltspunkt könnte sein, dass "That Golden Time" neue Standards in Sachen Indie Folk setzt.

Ausgerechnet während der Coronalockdowns zurückgeworfen auf sich selbst, entstand mit "Fever Dreams" 2021 sein opulentestes Album. Der unfreiwilligen Entkopplung aus gewohnten Sozialzusammenhängen sollten Klangräume zum Sichaufgehobenfühlen und Nachdenken entgegenstehen, hieß es damals. "That Golden Time" lässt wieder den Solokonzeptgedanken ins Bewusstsein rücken, der den Villagers seit Anbeginn zugrundeliegt. Erarbeitet das Album zuhause im Wohnzimmer, sämtliche Instrumente bewältigt Conor O'Brien selbst. Viel später erst hinzugefügt die Bouzouki von Folkurgestein Dónal Lunny, die Pedal Steel Guitar von David Tapley, die Violine des Wahlbriten Peter Broderick, der Sopran von Katy Kelly, der Backgroundgesang von Multiinstrumentalistin Mali Llywelyn. Mitglieder eines Kammerensembles, das wegen seiner Beteiligung an einem Tribute für den italienischen Soundtrackkomponisten Ennio Morricone bleibenden Eindruck hinterließ, ergänzen Streicher und Klarinette. Zusammengefügt ergeben die unterschiedlichen Elemente ein raffiniertes Geflecht außergewöhnlicher Originalität. Wenig vergleichbares derzeit weit und breit, weder musikalisch noch literarische Bezugsquellen betreffend!

Namentlich erwähnt das Presseinfo des Schallplattenlabels Fintan O'Toole, Dory Previn sowie Lorraine Hansberry, einen irischen Journalisten und zwei Amerikanerinnen, Schriftstellerin die eine, Dramaturgin die andere. Neben Marcus Aurelius, dem römischen Philosophenkaiser, angezapft auch Friedrich Nietzsche. Dessen "Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" interpretiert Connor O'Brien als Aufforderung, sich keiner Denkschule exklusiv anzuvertrauen, weil das bloß Gegensätze verschärft, Konflikte schürt, Gräben vertieft, exemplarisch nachzuvollziehen tagtäglich im Zeitalter der sozialen Medien. Stattdessen sei dem freien Geist der Vorzug zu geben, kaum vermeidbaren Ausgrenzungserfahrungen zum Trotz.

Wenn "Truly Alone", der Eröffnungssong zu "That Golden Time", feststellt "To keep your head when no one's got your back/To know the cost of everything you lack/To wander lost, searching for a home/Truly alone", lässt sich leicht eine aktualisierte Neufassung eines Gedichts aus Friedrich Nietzsches Nachlass vermuten. Der erste Abschnitt, unter der Überschrift "Vereinsamt" recht bekannt geworden, beklagt den Verlust der Geborgenheit einer aufgegebenen Heimat. Im zweiten, weniger geläufigen Abschnitt heißt es "Daß Gott erbarm'! Der meint, ich sehnte mich zurück/In's deutsche Warm/In's dumpfe deutsche Stuben-Glück!/Mein Freund, was hier/Mich hemmt und hält, ist dein Verstand/Mitleid mit dir!/Mitleid mit deutschem Quer-Verstand!". Ganz recht, "That Golden Time" ist zum Genießen und Mitdenken, wie originelle Kunst sein soll!
Bernd Gürtler/TM


Villagers
"That Golden Time"
(Domino; 10.5.24)


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Foto: Rich Gilligan

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