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Hans Joachim Roedelius: Nach vorn schauen, nach hinten hören

"Du bist aus Dresden?" Der aus Dresden angereiste Journalist staunt nicht schlecht. Zur Debatte stand eigentlich "Harmonia '76", ein Album, das 1997 unveröffentlichtes Material aus gemeinsamen Sessions von Harmonia und Brian Eno zugänglich macht. Zwecks Interviews hatte die Band in einem Kölner Szenehotel Quartier bezogen. Aber dann bereits im Weggehen begriffen, eröffnet Hans Joachim Roedelius unglaubliche Familiendetails. Dass seine Schwester in Dresden lebt, in den Hochhäusern hinterm Hauptbahnhof, schon zu Vorwendezeiten. Dass einer seiner Vorfahren Apotheker am Hof August des Starken gewesen sei!

Weitere Interviewverabredungen später bei ihm zu Hause im österreichischen Baden, bringen eine Biographie ans Licht, die begreiflich macht, was es bedeutet, wenn jemand ein bewegtes Leben bescheinigt bekommt.

Geboren wird Hans Joachim Roedelius 1934 in Berlin, ein Jahr nachdem die Nazis die Macht ergreifen. Schon diese Zeit hinterlässt bleibende Erinnerungen. "Jaja, natürlich, die Nazis versuchten, mich zu indoktrinieren. In den letzten Kriegsmonaten drückten sie uns Kindern noch die Panzerfaust auf die Schulter, wir sollten Panzer abknallen. Zum Glück ist es nicht dazu gekommen. Später bei den Kommunisten dasselbe. Die wollten was von dir, das du nicht willst."

Sein Vater ist Zahnarzt von Beruf und "brauchte nicht in den Krieg. Er hatte als Sanitäter im Ersten Weltkrieg Gelbkreuzgiftgas abbekommen und war kriegsuntauglich geschrieben. Die gesamte Kriegszeit konnte er in seiner Praxis als Zahnarzt arbeiten. In den letzten Kriegsmonaten haben sie ihn abkommandiert in den Sudentengau. Dort war ein Konzentrationslager für die aus dem Kreis der Attentäter des 20. Juli, die nicht sofort umgebracht worden waren. Man hatte sie in ein Lager in der Gegend von Deschna geschafft, mein Vater musste sie behandeln. Deswegen sind wir bei Kriegsende zu ihm und dann gemeinsam zu Fuß aus dem Sudentengau in die Lausitz, wo mein Vater zum Zahnarzt einer russischen Garnison gemacht wurde."

Bis der Kriegswahnsinn der Nazis am Ende die eigene Bevölkerung zu Hause vor der eigenen Haustür heimsucht, sind sie eine Familie von vielen. "Bis 1939, bis der Krieg anfing und noch ein, zwei Jahre, bevor die Bombardements losgingen, war das ein, wie soll ich sagen, sehr normales Leben." Nichts Besonderes, außer dass Hans Joachim Roedelius zum Kinderstar diverser Spielfilmproduktionen der Ufa avanciert. "Mein Vater hatte prominente Patienten, unter anderem Regisseure der Ufa. Die haben mich irgendwann entdeckt und gesagt, den wollen wir, und dann haben sie mich bei der Ufa filmen lassen. Obwohl, bei dieser Schauspielerei, als Kind, ich musste mal ein krankes Kind spielen, was ich überhaupt nicht verstand. Die mussten mich mit Schokolade krank machen. Und mit einer Modelleisenbahn locken, die in den Film eingebaut wurde. Aber eine interessante Zeit, klar." Die Spielfilme, die Hans Joachim Roedelius in seiner Kindheit bestreitet, sind nicht nur harmlose Schmonzetten wie "Verklungene Melodie", mit Brigitte Horney und Willy Birgel in den Hauptrollen. "Reiten für Deutschland" ist ausgemachte Nazi-Propaganda. Bereut er seine Mitwirkung? "Nee wieso, was sollte ich denn machen. Das ergab sich, und mein Vater war kein Nazi!"

Die sowjetische Besatzungszone, 1949 geht die DDR daraus hervor, bleibt nach Kriegsende eine Weile sein Zuhause, was seine tiefe Abneigung gegen jedwede Ideologie nur noch verstärkt. "Ich hab' für Walter Ulbricht demonstriert, mit Lutschbonbons im Mund. Ich hab' mir den Mund blutig gelutscht, weil, das war Zucker, den kriegte man nicht so einfach. Ich musste in der Freien Deutschen Jugend mitmachen. Das waren die kleinen Bausteine für alles Weitere. Deswegen habe ich dann in Westberlin, als ich endlich dort gelandet war, nicht in der politischen Bewegung mitgemacht. Ich bin nicht mit Rudi Dutschke auf die Straße gegangen. Das war einfach nicht mein Ding!"

Noch in Ostdeutschland, wird Hans Joachim Roedelius zur Kasernierten Volkpolizei eingezogen, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee. Er desertiert, flieht in den Westen, kehrt zurück, denn er bekommt Straffreiheit zugesichert. Nichtsdestotrotz wird ihm in Dresden der Prozess gemacht. "Nach Artikel sechs der Verfassung, Boykotthetze." Er landet in Bautzen, im berühmt berüchtigten Gelben Elend, später in Zwickau, wo er im Bergbau schuften musste. "Das war furchtbar! Wir mussten da ganz niedrige Flöze im Liegen abhacken. Dann habe ich mir aber einen Bruch zugezogen, ich wurde operiert und anschließend im Innendienst eingesetzt."

Nach der Haftentlassung eine Ausbildung zum Krankengymnasten, erneute Flucht. In Westberlin Anschluss an das Zodiak Free Arts Lab, gemeinsam mit Conrad Schnitzler und Dieter Möbius Gründung der Gruppe Kluster, die sich nach Conrad Schnitzlers Weggang Cluster schreibt und mit Michael Rother als neuem dritten Mitstreiter in Harmonia umbenennt. Nach Stationen in Düsseldorf und Hamburg, bringt ein weiterer Ortswechsel endlich etwas Ruhe. Der Alte Posthof im niedersächsischen Forst ist wie geschaffen als Künstlerrefugium. Genau dort im beschaulichen Weserbergland entsteht 1976 mit "Sowiesoso" das Cluster-Album, das Hans Joachim Roedelius das liebste ist. Und Brian Eno kommt zu Besuch, er hat gerade mit David Bowie in Westberlin zu tun.

Die westdeutsche Kommunardenkultur wird ihm nach persönlichen Begegnungen mit zwei prominenten RAF-Mitgliedern erst recht suspekt. "Gudrun Ensslin und der Baader, die hatten damals schon das Kaufhaus angezündet und warn auf der Flucht, saßen rum mit anderen, quatschten und suchten nach einem Konzept für das, was sie machten. Ihre Kinder ließen sie im Stich. Ein Gewitter zog auf und die Kinder hatten Schiss. Keiner kümmerte sich!"


Krautrock entstand vor dem Hintergrund der Gesellschaftsumbrüche Ende der sechziger Jahre und begleitet die Proteste der westdeutschen Nachkriegsjugend gegen die eigene Elterngeneration wegen ihrer Mitschuld an der Schreckensbilanz des Zweiten Weltkriegs. Hans Joachim Roedelius ist zehn Jahre älter als die meisten Protagonisten von damals. Mit seinen Eltern hat er keine Rechnung offen, stattdessen fühlt er sich seinen Vorfahren verpflichtet. "Ich bin überzeugt, dass einem die Ahnen etwas mitgeben. Wer das erkennt, kann den Faden aufgreifen. Bei mir sind das Diener der Kirche und Mediziner gewesen, unter ihnen ein Oberhofapotheker August des Starken. Meiner Musik wird eine Heilwirkung zugeschrieben. Ich bekomme Post von überall, wo die Leute schreiben, sie wären durch meine Musik gesund geworden. Ein bisschen bin ich auch Pfarrer geblieben." Ohne banal zu wirken, hat seine Musik etwas Friedfertiges, Herzliches, vielleicht auch Heilsames. Egal wie die Stücke heißen, und manchmal heißen sie "Sonnengeflecht" oder "Glaubersalz".

Die passende Metapher für seine Personalunion aus Musiker, Mediziner und ein bisschen Seelsorger mit enger Ahnenanbindung fand er selbst, in einer Figur, die erstmals 1979/80 auf dem Frontcover seiner Soloalben "Selbstporträt I+II" abgebildet ist. Man fühlt sich an die Steinmonumente der Osterinseln erinnert. In Wahrheit handelt es sich um eine Holzfigur aus seinem Arbeitszimmer. Der Blick nach vorn, die Ohren nach hinten gerichtet, das sei er, sagt Hans Joachim Roedelius. "Ich höre in die Vergangenheit und schaue in die Zukunft, mit dem, was in der Vergangenheit war. Die Figur habe ich selbst geschnitzt, im Winter in Forst. Meine Tochter ist dort am Lagerfeuer zur Welt gekommen. So ein Leben, das ist so ein Geschenk!" Für den Dresdner Zweig seiner Familie empfindet er tiefste Bewunderung. "Was da unter den Kommunisten an Zusammenhalt entstanden ist, an sozialer Verantwortung. Die sind christlicher als viele Christen die ich kenne!" Auftritte in Dresden sind für ihn immer auch ein Heimspiel.

Was man an Tonträgern aus der Überfülle seiner Veröffentlichungen unbedingt hören sollte? Aus jüngerer Vergangenheit unbedingt Hans Joachim Roedelius/Arnold Kasar und "Einfluss" (Deutsche Grammophon) sowie Hans Joachim Roedelius/Christopher Chaplin und "King Of Hearts" (Subrosa), zwei Alben mit Orchesterbeteiligung. Oder das eher elektronische Duoalbum "Imagori" (Grönland) von Christoph H. Müller/Hans Joachim Roedelius. Von Cluster natürlich "Sowiesoso" (BureauB), von Harmonia "Musik von Harmonia" sowie "Deluxe" (beide Grönland). Die frühen Solojahre sind repräsentativ zusammengefasst auf "Electronic Music (Compiled by Lloyd Cole)" (BureauB)
Bernd Gürtler SAX 10/19
 


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Foto: Stefan Roederath

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