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Die Welt aus den Fugen geraten: Karl Bartos vertont "Das Cabinet des Dr. Caligari"

Die Weltpremiere 1920 im Lichtspieltempel Marmorhaus am Berliner Kurfürstendamm gerät zum Aufreger. Publikum und Kritiker sind ebenso begeistert wie verstört. Grotesk verzerrte Kulissen, kontrastreiche Ausleuchtung, exzessive Maske, übertriebenes Agieren, eine Handlung, die erschaudern lässt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der expressionistische Stummfilmklassiker "Das Cabinet des Dr. Caligari" aufwändig restauriert und wiederholt mit neuen Soundtracks versehen. Karl Bartos von ehemals Kraftwerk, geht mit seiner Neuvertonung sogar auf Tournee und bringt die Musik in ausgewählten Kinos live zum Film zur Aufführung.

Warum ausgerechnet "Das Cabinet des Dr. Caligari"? Die expressionistische Stummfilmära zwischen den Weltkriegen brachte eine Reihe bedeutender Leinwandklassiker hervor.
Meine Musikerfreunde von Kraftwerk und ich machten ein Stück mit dem Titel "Metropolis", das sollte den gleichnamigen Film von Fritz Lang auf sechs Minuten verdichten. Was natürlich nichts weiter als ein schöner Versuch war. Aber damals fiel mir ein Buch in die Hände, von Lotte Eisner, "Die dämonische Leinwand". Das war eine Geschichte des Films der Weimarer Republik, dort begegnete mir der "Caligari" zum ersten Mal. Damals bestand noch keine Möglichkeit, den Film anzuschauen, das Internet war noch in weiter Ferne. Aber über die Jahrzehnte las ich mehr und mehr und erwarb um 2000 herum von der Wilhelm Murnau Stiftung eine VHS-Kassette. So ging das los. Ich bin gar nicht zu dem Film gekommen, der Film kam zu mir. Je mehr ich in Erfahrung brachte, je öfter ich mir den Film anschaute, desto tiefer geriet ich in den Sog der Weimarer Zeit, die generell wichtig war für unsere Geschichte. 2005 nahm ich an der Berliner Akademie der Künste eine Gastprofessur für Mediengestaltung an und arbeitete mit meinen Studenten häufig anhand von Stummfilmen, die pantomimischen Darstellungen eignen sich hervorragend zur Vertonung. Mit Fritz Lang fing es auch bei mir an, von dort aus bin ich tiefer eingestiegen. Das war ein langer, über weite Strecken unbewusster Prozess.

Kraftwerks "Metropolis" erschien 1978 auf "Die Mensch-Maschine". Bandmitglied wurdest du vier Jahre zuvor und bist bereits anlässlich "Autobahn" in den USA mit auf Tour gewesen. Die Bühnendekoration war seinerzeit schon nach dem Vorbild von Fritz Langs berühmten Stummfilm gestaltet, ist deiner Autobiographie "Der Klang der Maschine" zu entnehmen.
Das floss alles ineinander. Ralf Hütter und Florian Schneider kleideten sich wie in "Metropolis", sie trugen lange Mäntel mit Pelzen. Die beiden sind totale Fans gewesen. Ich war auch Fan der Moderne, kam aber eher über die Musik. Mich begeisterte Igor Stravinskys "Die Frühlingsweihe" von 1913, "Der Feuervogel", weil ich als Schlagzeuger an Aufführungen der Stücke beteiligt gewesen bin. Ralf und Florian kamen über den Film zur Moderne.

Ursprünglich zur Musik finden solltest du durch das "A Hard Day's Night" der Beatles, bist dann Schlagzeuger diverser Rockbands gewesen, gehörtest unter anderem einer frühen Formation von Marius Müller-Westernhagen an, um schließlich Schlagzeug an der Robert Schumann Hochschule deiner Heimatstadt Düsseldorf zu studieren. Wahrscheinlich bedarf es eines solchen Hintergrunds, um einen Soundtrack wie den deinen zu "Das Cabinet des Dr. Caligari" zu komponieren.
Ich bin froh, dass ich mich schon sehr lange für Musikgeschichte interessiere. Die Musik, wie wir sie heute kennen, beginnt bei Johann Sebastian Bach, der temperierten Stimmung, dem Quintenzirkel, dem Kontrapunkt. Gleichzeitig ist der "Caligari" ein Produkt des 20. Jahrhunderts, spielt im 19. Jahrhundert und verarbeitet einen Stoff des 18. Jahrhunderts, aus der Zeit von Bach. Das war für mich das ausschlaggebende Moment, ich wollte die verschiedenen Zeitspannen miteinander verbinden. Möglich wurde es durch das Sinfonieorchester. Aber ein Sinfonieorchester lässt sich nicht imitieren, das existiert nur im Konzertsaal. Deshalb transformierten wir meine Musik ins Elektronische.

Geschrieben wurde für Sinfonieorchester und umgesetzt mit elektronischen Musikinstrumenten?!
Komponiert habe ich am Klavier und die Partitur von einem Computerprogramm auf Notenpapier übertragen lassen. Geschrieben ist für Sinfonieorchester, aber eben für ein transformiertes Sinfonieorchester. Vielleicht erinnert sich jemand an den Soundtrack von Walter Carlos für Stanley Kubricks "Clockwork Orange". Kubrick wollte eine gewisse Ironie, dieses verzerrte Sinfonieorchester, das fand er gut. Er hatte "Switched On Bach" gehört und dachte, ah ja, der Hauptfigur des Films gebe ich Beethovens Neunte Sinfonie, alle Menschen werden Brüder und so weiter; das wirkt absurd, bei einem Gewalttäter als Hauptfigur. Aber diese Ironie des transformierten elektronischen Klangs passte. Mir war das gar nicht bewusst, aber jemand meinte, mein Soundtrack sei ähnlich ironisch.

Du lässt in deine Musik synthetische Geräusche und Sprache einfließen, was beim Filmoriginal weder vorgesehen noch technisch machbar war.
Ich wollte den Film einem heutigen Publikum zugänglich machen und gegenwärtig leben wir in audiovisuellen Zeiten. Man hatte 1920 auch schon die Möglichkeit der Tonaufzeichnung, es gab das Grammophon. Aber Bild und Ton liefen beim Film getrennt. Ich wage es, diese Trennung aufzuheben. Es gibt den Bericht eines Kollegen, der die Dreharbeiten des "Caligari" in Weißensee verfolgte. Der berichtete von einem unglaublichen Lärm. Anwesende hätten sich kaputt gelacht als der Caligari in eine Zwangsjacke gesteckt wurde. Es muss der Teufel losgewesen sein am Set. Wir können uns das heute gar nicht mehr vorstellen, Film war damals eine unglaublich heiße Sache. Vorbild für den "Caligari" war "Der Student von Prag" aus dem Jahr 1913, dort trat ein Mann aus einem Spiegel heraus, das Spiegelbild löste sich vom Spiegel. Die Zuschauer sind ausgeflippt, sowas ließ sich bis dahin höchstens literarisch beschreiben. Das ansehen zu können als sei es Wirklichkeit, das hat die Leute umgehauen!

Kennst du die Partitur des Originalsoundtracks zu "Das Cabinet des Dr. Caligari" von Guiseppe Becce?
Es gab keine Partitur, Guiseppe Becce wertete berühmte Opern und Operetten aus und katalogisierte in einer Kinothek Musikstücke für verschiedenste Stimmungen. Filmkomponisten arbeiten noch heute so. Wird eine traurige Stimmung benötigt, können sie in einer Sound Library aus drei Millionen traurigen Musikstücken auswählen. Guiseppe Becce hat das bereits praktiziert. Eine ziemlich moderne Arbeitsweise, Soundtracks mussten schnell gehen, und die Orchester sind so routiniert gewesen, dass sie das aus dem Stand umsetzen konnten.

Wie bist du vorgegangen? Hast du beim Filmanschauen komponiert?
Ich habe mir den Film tausendfach angeschaut und dabei ist mir aufgefallen, dass die Bewegungen der beiden Hauptdarsteller etwas Pantomimisches haben. Cesare, der Schlafwandler, schwebt, weil er hypnotisiert ist. Dr. Caligari, der Bösewicht, der Cesare unter Hypnose Morde begehen lässt, bekam skurrile Synkopen verpasst. Ich ging den umgekehrten Weg wie Stravinsky, der mit "Die Frühlingsweihe" eine Musik komponierte, die von einem Choreographen in ein Ballett umgesetzt wurde. Bei mir war es anders herum.

Was erzählt uns der Film heute?
Der Film beginnt wie ein Krimi. Der Frances als dritte Hauptfigur mit dem detektivischen Gespür eines Sherlock Holms, kommt Dr. Caligaris üblen Umtrieben auf die Spur, wird aber für verrückt erklärt und einer Irrenanstalt überstellt, wo er erkennen muss, dass Dr. Caligari und der Anstaltsleiter ein und dieselbe Person sind. Es geht im Film letztendlich nicht um Wahrheitsfindung sondern um das Verschwinden der Wirklichkeit. So müssen sich die Menschen nach dem Ersten Weltkrieg gefühlt haben, die Welt war aus den Fugen geraten und heute fühlen wir uns wieder so. Es gibt immer mehrere Realitäten, alternative Wahrheiten, Fake News. Die Alltagswelt der Weimarer Republik ist unserer sehr ähnlich, und was daraus erwuchs, wissen wir. Mein Großvater musste den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, mein Vater den Zweiten Weltkrieg erleben. Ihr Trauma gaben sie an die nachfolgenden Generationen weiter. Ich bin froh, dass ich für mich die Musik fand.
Bernd Gürtler/TM


Karl Bartos
"Das Cabinet des Dr. Caligari"
(BureauB; 16.2.24)


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Foto: Philipp Rathmer
Foto: Thomas Ecke

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