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Brezel Göring: Stereo Total, bloß leider ohne Françoise jetzt

Stereo Total sind nicht mehr, Frontfrau Françoise Cactus starb vor drei Jahren an einer Krebserkrankung. Brezel Göring lässt derweil keinerlei Zweifel mehr, den Faden der gemeinsamen Duobesetzung fortspinnen zu wollen und bringt mit "Friedhof der Moral" vom Herbst 2024 das nächste Soloalbum an den Start. Eine Interviewverabredung ergab sich im Vorfeld der Albumveröffentlichung in Berlin.

Das Presseinfo des Schallplattenlabels erwähnt eine nicht näher bezeichnete Studie, wonach bei Popsongtexten der Trend hin zu Wiederholungen weniger markanter Worte oder Satzbausteine geht. "Such dir einen Arzt", der Eröffnungssong zu "Friedhof der Moral", betrifft das kuriose Phänomen?
Zuerst dachte ich gar nicht, dass ich an einem Song arbeite. Ich klimperte auf meinem Keyboard vor mich hin, das Orchester und die Frauenstimme hatte ich vorher eingesampelt und mir auf verschiedene Keyboardtasten gelegt. Irgendwann dachte ich, oha, ein Song! Bei Stereo Total sagten wir an der Stelle meist, fertig, das nehmen wir so. Von der Studie erfuhr ich erst im Nachhinein.

Es lässt sich kaum leugnen, dass Populärmusiksongs im Wandel begriffen sind. Nicht nur, was das Wortvokabular angeht. Instrumentale Intros werden eingekürzt oder komplett weggelassen, ebenso die Strophen. Aneinandergereiht finden sich vorzugsweise Refrains. Und weshalb? Um sich den Algorithmen der Streamingdienste anzupassen.
Sehr seltsam, stimmt.

Selbst wenn unbeabsichtigt, dein Song darf als parodistischer Kommentar verstanden werden?
Sicher, ich betrachte mich sowieso als Parodie auf meine Zeit. Die Verhältnisse sind dermaßen kaputt, gerade wegen der Art, wie Musik neuerdings gemacht wird. Nicht mehr nur Menschen hören zu, sondern auch Maschinen. Zum einen, um aus Gründen der Profitmaximierung das Angebot optimaler auf die Vorlieben der Hörer zuzuschneiden. Zum anderen lernen die Maschinen, die Musik der Menschen nachzumachen. Das ist absurd! Obwohl mir Zeitbezüge egal sind, ich Zeitbezüge sogar bewusst zu vermeiden versuche, dachte ich diesmal, sobald mir kleinere Fehler unterliefen oder am Schluss eines Songs ein Geräusch stehenblieb, eine künstlerische Intelligenz hätte das nicht hingekriegt!

Die Frauenstimme in "Such dir einen Arzt" ist eine Archivaufnahme von Françoise?
Nein, das ist Virginie Varlet, eine andere befreundete Französin. Wegen ihrer lustigen, leicht pampigen Stimme, hatte ich sie in der Vergangenheit manchmal für Hörspielproduktionen engagiert. Auf "Friedhof der Moral" kommt sie zwei Mal zum Einsatz, wohl wissend, dass das an Françoise erinnert.

Geht die Trauerbewältigung des Vorgängeralbums "Psychoanalyse (Volume 2)" mit "Friedhof der Moral" in die Verlängerung?
Durchaus, bloß anders jetzt. Ich vermute, dass mir die Geschichte für immer erhalten bleiben wird, dass sie sich aber verändert über die Zeit. Rückschauend ergibt sich auf vieles ein neuer Blick. In der Erbmasse von Françoise befand sich eine Psychotherapeutin, von der sie auf ihrem letzten Weg begleitet wurde. Wenn die Therapeutin anrief und Françoise sich nicht in der Lage fühlte, redete ich mit ihr. Nachdem Françoise gestorben war, setzten wir die Gespräche fort. Ich stellte einen Antrag, dass ich einer Therapie bedarf, weil ich nachts nicht schlafen, tagsüber nicht arbeiten konnte. Die Genehmigung wurde erteilt und wir trafen uns regelmäßig. Das ist das Schöne, von selbst wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich das brauchen könnte. Wie gut, dass Françoise noch dafür gesorgt hat, dass ich an jemanden komme, der mich schon kennt. Ich bin jetzt mit meinen besten und schlechtesten Seiten vertraut. Dank der therapeutischen Unterstützung kann ich mir mein Leben erträglicher gestalten. Ich denke oft an Françoise, höre unsere Musik, lese ihre Texte, ihre Notizen und überlege, wie sie entschieden hätte.

Françoise fehlt, oder?
Sie fehlt ungemein!

Was vermisst du am meisten?
Ich arbeite jetzt mit ganz verschiedenen Musikern und denke manchmal, ich schaue einem wilden Tier in die Augen. Ich frage mich, was wollen die von mir. Dieses Einverständnis, das ich mit Françoise hatte, war spielerisch. Wir kannten uns gut, persönliche Rivalitäten bestanden kaum. Zwischen uns hat eine familiäre Atmosphäre geherrscht. Das war etwas ganz anderes. Das jetzt ist auch schön, aber von der Intensität her nicht wie mit Françoise. Deswegen suche ich gar nicht mehr danach. Eher unwahrscheinlich, dass ich Ähnliches noch einmal erlebe. Ein Freund stellte die Theorie auf, dass jeder Musiker nur eine gute Schallplatte in seinem Leben hinbekommt. Ich kann meine eine gute Platte noch nicht erkennen, verstehe aber, was er meint. Bestimmte Personalkonstellationen sind unwiederholbar.

Deine aktuellen Mitstreiter kommen außer aus Kreuzberg, Taiwan, Frankreich und Chile auch aus dem Sorbenland. Welche Impulse von dort sind eingeflossen? Immerhin verzeichnet die Gegend zwischen Bautzen, Kamenz und Hoyerswerda eine sehr lebendige Rockszene.
Hanni Woyereci, unser Schlagzeuger, Perkussionist und Keyboarder, ist Sorbe. Er sollte eine tragende Rolle spielen. Mir war nicht unbedingt nach Proben zumute, sondern ich hatte jeweils den nächsten Song parat, wenn er im Studio vorbeikam. Ein ausgezeichneter Musiker, was mit seiner sorbischen Herkunft rein gar nichts zu tun hat. Aber ein interessantes Thema. Jacke Schwarz, der mir als Bassist der Punkband Eastie Rois manchmal über den Weg läuft, hat auf seinen Soloscheiben Songtexte in sorbischer Sprache.

Dein "Die letzte Kugel" von "Friedhof der Moral" handelt auf den ersten Blick von Selbstmord. Tatsächlich geht es um Glücksspiel. Welcher Zusammenhang besteht?
Das Glücksspiel dient mir als Metapher. Das Leben ist ein Glücksspiel, das schlecht ausgeht. Genaugenommen ist Selbstmord auch eine Metapher, für Ausweglosigkeit, Verzweiflung, einen Tiefpunkt im Leben. Mich hat das beschäftigt. Irgendwo las ich, dass Menschen, die von hohen Häusern oder Brücken gesprungen sind, um Suizid zu begehen, aber überlebt haben, hinterher meinten, dass sie, nachdem sie gesprungen waren, es bereut hätten. Sogar Selbstmord ist unter Umständen ein Glücksspiel.

Es will wohl überlegt sein, wie man es anstellt. Misslungene Selbstmordversuche können auch schwere Behinderungen nach sich ziehen.
Absolut, da ist Nachlässigkeit nicht gefragt!

Zwei Songs handeln von Drogen, "Tilidin" und "Tschernobyl".
Schon lustig, dass ich so oft über Drogen singe, ohne selbst welche zu nehmen. Bei mir sind auch das Metaphern, dafür, wie kompliziert Beziehungen sein können. "Tilidin" besingt jemanden, der die Straße runter wohnt und ein unbändiges Liebesbegehren entfacht. Bei den Amphetaminen in "Tschernobyl" ist es eher so, dass der Song von Verzweiflung in der Liebe handelt. Jemand sagt sich, ich bleibe, aber werfe mir das allerschädlichste ein, das die Labore aus irgendwelchem Dreck mixen.

Warum sehnt sich der Protagonist dann ausgerechnet nach einem Urlaub in Tschernobyl? Seine Situation ist unschön genug und nach allem, was bekannt ist, gilt die Gegend um das 1986 explodierte Atomkraftwerk als unbewohnbar; Bilddokumente erinnern an Szenen aus Andrei Tarkowskis Experimentierfilm "Stalker".
Ich selbst fahre auch lieber an andere Orte in den Urlaub. Aber einer meiner Bekannten reist zu Vulkanen in Afrika, wenn sie eruptieren. Er ist auch in Tschernobyl gewesen und berichtete von den dortigen Sehenswürdigkeiten. Er sei über eine Brücke gelaufen und hätte ein Stück Brot, das er vom Essen noch in der Hand hielt, in einen Fluss geworfen. Ein riesengroßer Rachen sei aus dem Wasser gekommen und hätte sich das Brot geschnappt. Unglaublich monströse Tiere leben dort, es gibt lilafarbene Bäume oder einen Baum, der wie ein Korkenzieher gewachsen ist. Davon erzählte er. Deshalb der Katastrophenurlaub und nicht wie bei den Sex Pistols "Holiday in other peoples misery" sondern ein Urlaubsort als Spiegelbild der eigenen Misere.

Der Titelsong zu "Friedhof der Moral" offenbart ähnlich "Die letzte Kugel" eine zweite Bedeutungsebene. Nicht die Moral wird zu Grabe getragen, sondern das schlechte Gewissen thematisiert, das dich überkam, wenn du Françoise in ihrem Krankenbett zurücklassen musstest.
Nein, es geht um das schlechte Gewissen, wenn ich von ihrem Grab heimgegangen bin. Das war so ein Ding, das ich im Herbst dann erlebte. Ich besuchte regelmäßig ihr Grab, es wurde abends langsam dunkel und ich dachte, ich sollte jetzt gehen. Dann sang ich immer, ich gehe weg und lasse dich in der Dunkelheit zurück; ein kleines Lied, das ich mir ausgedacht hatte. Es bezieht sich auf das Grab, aber nicht, dass ich weggehe und die tote Person alleingelassen wird, sondern die Lebenden alleingelassen wurden. So ist das entstanden. Ich hörte damals eine Bossa Nova-Schallplatte ständig auf fünfundvierziger Umdrehungen und fand, genau darauf mache ich das Lied.

Das finale "Au revoir" ist wiederum auch Françoise gewidmet?
Ja, wenn ich unsere Musik höre, muss ich an sie denken. "Friedhof der Moral" kommt mir vor wie Stereo Total, bloß leider ohne Françoise jetzt.
Bernd Gürtler/TM


Brezel Göring
"Friedhof der Moral"
(Flirt 99; 20.9.24)


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Foto: Tina Linster
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