|   Rezension

Lucinda Williams

Stories From A Rock'n'Roll Heart

(Highway 20 Records/Thirty Tigers)

Die Frontcovergestaltung erinnert verblüffend an Bruce Springsteens "The River". Purer Zufall? Der Titelsong jenes Doppelalbums wollte den Gedanken streuen, dass Flüsse gewöhnlich in zweierlei Richtung fließen, "towards a future that feels like home, and away from a home that's gone for good", wie Dave Marsh es ausdrückte, wobei die amerikanische Kritikerlegende sowohl auf die Lebenswege der Songprotagonisten als auch das Genre Rockmusik generell Bezug nahm. Lucinda Williams hat mit "Stories From A Rock'n'Roll Heart" etwas Ähnliches vorgeschwebt.

Bruce Springsteens Debütalbum "Greetings From Asbury Park, N.J." etabliert 1973 ein romantisches Replikat dessen, was bis dahin als Rockmusik galt. Seine comichaften Charaktere hießen Hazy Davy oder Killer Joe, besteigen zwei Jahre später bei "Born To Run", dem Song sowie dem gleichnamigen Album, ihre Suicide Machines und begeben sich auf die Jagd nach dem American Dream. Um weitere drei beziehungsweise fünf Jahre später bei "Darkness On The Edge Of Town" und "The River" festzustellen, dass es kein Entrinnen gibt aus der Tristesse, in die sie sich hineingeboren fanden. Höchstens eine dialektische Sichtweise der Dinge nach dem Vorbild von John Steinbecks Literaturklassiker "Früchte des Zorns" zulegen können sie sich, damit ihr Schicksal erträglich bleibt.

Lucinda Williams kollidiert im November 2020 auf das Heftigste mit der erbarmungslosen Realität. Sie erleidet einen Schlaganfall, kämpft sich, unterstützt von Jason Isbell, zurück ins Leben, nutzt die Lockdowns der Coronapandemie für eine Reihe von Tributealben unter der Hauptüberschrift "Lu's Jukebox", hinterlegt mit "Don't Tell Anybody The Secrets I Told You" ihre Autobiographie.

"Stories From A Rock'n'Roll Heart" lässt sich als Fortsetzung der Buchpublikation lesen, das Album eine Bestandsaufnahme dessen, was gewesen ist und eventuell daraus erwachsen könnte. Neben teils recht persönlichen Mitteilungen lautet die wichtigste Botschaft, dass Rockmusik nach wie vor ein bestens geeignetes Forum bietet, um anrührende Alltagsgeschichten zu erzählen. Gesang und Gitarre, Bass und Schlagzeug, mehr braucht es nicht, der Verzicht auf Studiobrimborium verstärkt die Wirkung sogar noch. Kann es sein, dass die Zukunft des Rock'n'Roll im 21. Jahrhundert Lucinda Williams heißt?

Bruce Springsteen, der bei zwei Songs von "Stories From A Rock'n'Roll Heart" die Duettstimme beisteuert, hatte seine Chance, zog es leider aber vor, sich auf Konzertagenturen einzulassen, die Dynamic Ticket Pricing anwenden. Ein Großteil seiner Fans von früher, kann sich den Konzertbesuch bei ihm kaum noch leisten, seine Songfiguren der Anfangsjahre erst recht nicht. Bei Lucinda Williams wirkt der angejahrte Rock erfrischend munter und nach wie vor erzählt wie unter guten Freunden beim Feierabendbier in der Kneipe an der Ecke. Ausgezeichnet!
Bernd Gürtler/TM


Lucinda Williams
"Stories From A Rock'n'Roll Heart"
(Highway 20 Records/Thirty Tigers; 30.6.2023)


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Foto: Danny Clinch

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