|   Rezension

John Cale

Mercy

(Domino)

Was ins Deutsche übersetzt "Mercy" bedeutet, verrät jedes halbwegs seriöse Englischwörterbuch. Weitaus spannender die Frage, Vergebung wofür? Dafür, dass Velvet Underground erst durch John Cale und seinen Beitrag Außergewöhnliches leisten konnten? Sicher nicht und auch nicht dafür, dass er nach seinem Austritt aus der Band neben einer furiosen Solokarriere die Debütalben von Iggy Pops The Stooges oder Patti Smith produziert. Erwähnt sei es dennoch, weil Bestandteil der Vorgeschichte eines Albums, das sehr wohl auf das hinaus will, was der Albumtitel andeutet. Nur anders als gedacht.

Der walisische Bergarbeitersohn John Cale begeistert sich in seiner Jugend für Igor Stravinsky, komponiert selbst, entdeckt Bill Haley und den Rock'n'Roll, geht nach New York, macht die Bekanntschaft von John Cage sowie Andy Warhol, kommt als Ensemblemitglied von La Monte Youngs Theatre Of Eternal Music mit Drone-Sounds in Berührung, wird Mitglied von Velvet Underground – die Bandgründer Lou Reed gewiss mit herausragender Songtextpoesie versorgen kann, aber dank John Cales avantgardistischer Prägung konventionelle Songstrukturen hinter sich lassen und auf ihren ersten beiden Alben auch Stücke wie "The Black Angel's Death Song", "White Light/White Heat oder "Sister Ray" unterbringen.

Seiner musikalischen Kinderstube bleibt John Cale als Solist treu und egal ob Auseinandersetzungen mit Folk, Hardrock, Orchestersinfonik, Kammermusik oder Elektronik, schon von der Personalzusammensetzung wird selten dasselbe Album ein zweites Mal eingespielt.

"Mercy" vermerkt beinahe zu jedem Song andere Gastmitstreiter. Bei "The Legal Status Of Ice" und "Story Of Blood" sind es Fat White Family beziehungsweise Weyes Bloods Natalie Mering, bei "Everlasting Day" Animal Collective, deren frühe Alben die Nervosität einer von medialen Reizen zermürbten Alltagswirklichkeit adäquat abzubilden vermochten.

John Cale versucht erst gar nicht Vergleichbares hinzukriegen, sondern lässt "Mercy" eine gespensterhafte Unschärfe entfalten, den Porträtfotografieabmalungen eines Gerhard Richter nicht unähnlich und wie geschaffen, die Geister der Vergangenheit aufscheinen zu lassen. "Night Crawling" und "Moonstruck" verarbeiten Erinnerungen an David Bowie sowie Nico, die einstige Sängerin von Velvet Underground, "Marilyn Monroe's Legs" betrifft die im Songtitel erwähnte Hollywoodikone.

Ansonsten kündet "Mercy" von einem achtzigjährigen Wahlamerikaner, den weder Klimawandel noch Waffengewalt noch Kriegsgemetzel ungerührt lassen. Sollte die Menschheit ihre dringlichsten Probleme nicht in den Griff bekommen, wird bald schon jeder Einzelne um Vergebung bitten, um Gnade, um Erbarmen betteln müssen. "Lives do matter/Lives don't matter/Wolves getting ready/They're gonna buy more guns/Rolling around in the snow and the mud/Lights exploding above/ I'm looking for mercy, more and more" lauten prophetische Textzeilen aus dem Titelsong des Albums.
BG/TM 
 


John Cale
"Mercy"
(Domino; 20.1.2023)


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Foto: Madeleine McManus
Foto: Madeleine McManus

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