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Blondie: Mit "Against The Odds 1974-1982" ist der New Yorker Rockformation um Sängerin Debbie Harry ein Werkschauboxset ihrer produktivsten Schaffensphase gewidmet

Wie ein Comic Strip, der zum Leben erwacht, sollten Blondie sein, wird Debbie Harry in der Rückschau über die gemeinsam Chris Stein gegründete Rockformation sagen. Das Wichtigste aus ihrer produktivsten Schaffensphase ist im Werkschauboxset "Against The Odds 1974-1982" zusammengefasst, die sechs Studioalbumklassiker jener Jahre, die Hitsingles, teils unveröffentlichte Songversionen und seltene Demoeinspielungen. Verstaut das Musikkonvolut in einem knapp zweihundertseitigen Hardcoverbuch, randvoll mit historischem Bildmaterial und einem Begleittext, der informativer kaum sein könnte.

Debbie Harry, aufgewachsen in Hawthorne, New Jersey, im Abschlussjahrbuch der High School als "Best Looking Girl" geführt, geht Ende der sechziger Jahre nach New York, wo sie sich als Sekretärin im New Yorker Büro der BBC, als Kellnerin im Szenelokal Max' Kansas City oder Playboy Bunny durchschlägt, bis sie Sängerin bei der Folkcombo The Wind In The Willows wird, und Chris Stein, gebürtiger New Yorker, als Student der School Of Visual Arts angehender Fotograf, der wegen einer Laune des Schicksals zur Gitarre greift. Wie konnten er und Debbie Harry sich im Dunstkreis des Mercer Arts Centers begegnen? Der Begleittext zu "Against The Odds 1974-1982" beschreibt es im Detail.

Oder auch, wie eine ehemalige Bikerbar im East Village, der von ihrem Besitzer durch die Namensgebung CBGB, abgekürzt für Country, Bluegrass & Blues, eine völlig andere musikstilistische Orientierung vorgegeben war, Sammelbecken für spätere Größen des New Yorker Punkrock und New Wave wie den Ramones, der Patti Smith Group, Television oder Talking Heads werden konnte.

Blondie gaben ihr Debüt im CBGB als Blondie And The Banzai Babies, wegen Debbie Harrys Vorliebe für japanische Gegenwartskultur. Die Haare hatte sie sich damals schon nach dem Vorbild von Marilyn Monroe platinblond gefärbt. Für die Verkürzung des Bandnamens sorgt eine Eigenmächtigkeit der Anzeigenredaktion des SoHo News Weekly.

1976 erscheint das nach der Band benannte Debütalbum "Blondie", gefolgt 1977 von "Plastic Letters". Sowohl die eine als auch die andere Scheibe wirft mit "In The Flesh", "Rip Her To Shreds" sowie "(I'm Always Touched By Your) Presence, Dear" und "Denise", einer Coverversion des DooWop-Gassenhauers von Randy & The Rainbows, erste Hitsingles ab. Das Dumme ist, sowohl Alben als auch Singleauskopplungen sind Abräumer in Großbritannien, Kontinentaleuropa und Australien, nicht aber daheim in den USA.

Für Album Nummer drei wird deshalb der gebürtige Australier Mike Chapman angeheuert, der soeben von Großbritannien aus mit Acts aus dem Umfeld des britischen Glam Rock wie Suzi Quatro Hitparadenerfolge feiern konnte. Er verfrachtet die Band nach Los Angeles und triezt sie bis zum Abwinken. Das Ergebnis ist "Parallel Lines", und enthalten dort "Heart Of Glass".

Der Song verbindet Rock mit Disco, laut damaliger Musikstiletikette eine absolut indiskutable Kombination und deswegen sorgsam versteckt zwischen "Hanging On The Telefon", "One Way Or Another", "Picture This" und "Sunday Girl". Keiner rechnete sich Chancen aus für "Heart Of Glass", aber genau das schafft es nicht nur auf den Spitzenplatz in den US-amerikanischen Singlecharts sondern macht die Band unsterblich. Wer heute an Blondie denkt, denkt zuerst an "Heart Of Glass".

Unter den seltenen Demoeinspielungen auf "Against The Odds 1974-1982" finden sich mit "The Disco Song" und "Once I Head A Love" die beiden Ursprungsversionen, aus denen "Heart Of Glass" geformt wurde. Daneben die überhaupt erste Demoeinspielung von Blondie, "Out In The Streets", eine Coverversion aus dem Repertoire der Shangri-Las, einer berühmten amerikanischen Girl Group der frühen sechziger Jahre und Debbie Harrys leuchtendes Vorbild.

Dass Blondie auch anders können und wollen als bloß zuverlässige Hitlieferanten zu sein, verrät der übernächste Nachfolger zu "Parallel Lines". Wieder produziert von Mike Chapman, überrascht "Autoamerican" durch eine für damalige Verhältnisse geradezu abenteuerliche Vielfalt. Das Eröffnungsstück "Europa" beginnt als Orchesterkomposition und mündet in eine Elektronikpassage, zu der Debbie Harry einen Sprechtext vorträgt, Thema die amerikanische Automobilkultur. "Here's Looking At You" und "Faces" sind astreiner Jazz, "The Tide Is High" eine Coverversion der jamaikanischen Ska-Formation The Paragons. "Rapture" verknüpft Elemente aus Funk, Rock und Rap, "Follow Me" stammt aus dem Broadway Musical "Camelot".

Die Anleihen bei der Latin Music dann auf "The Hunter" wirken weniger risikofreudig, Durchschnittsware ist das Album trotzdem nicht. Danach ist erst mal Schluss mit Blondie. Debbie Harry versucht sich als Schauspielerin, gibt unter anderem die Velma Von Tussle in der von John Waters inszenierten Sixtiesklamotte "Hairspray". Von 1999 an mehrere Neuauflagen der Band, Debbie Harry veröffentlicht mit "Making Tracks: The Rise of Blondie" eine Bandbiographie, mit "Face It" ihre Autobiographie. Chris Stein präsentiert unter dem Buchtitel "Chris Stein/Negative: Me, Blondie, And The Advent of Punk" sein fotografisches Talent und kümmerte sich offenbar schon länger um das Bandarchiv. Aus seinen Beständen an Tonbändern, Bildmaterialien und sonstigen Devotionalien wurde "Against The Odds 1974-1982" zusammengestellt. Die Musik erneut aufwändig mit neuester digitaler Technik restauriert. Nicht nur, dass das Boxset ungemein informativ ist, es klingt sensationell gut!
Bernd Gürtler/TM
 



Blondie
"Against The Odds 1974-1982"
(Universal; 26.8.2022)



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Foto: Universal

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