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Wir bauen eine Klangwelt: Holger Hillers "Ein Bündel Fäulnis in der Grube" neu aufgelegt

Nicht vom Albumtitel einschüchtern lassen, Holger Hillers "Ein Bündel Fäulnis in der Grube" will kein morbides Untergangsszenario ausbreiten. Das anlässlich des vierzigsten Veröffentlichungsjubiläums neu aufgelegte, erste Soloalbum nach seinem Weggang bei Palais Schaumburg, balanciert gekonnt zwischen Eingängigkeit und Experiment, enthält mit "Jonny (du Lump)" sogar einen Hitklassiker der westdeutschen Populärmusiksubkulturen der achtziger Jahre. Falls ein verstörendes Element mitschwingen sollte, dann wegen des Einsatzes eines der allerersten, handelsüblichen Samplermodelle.

Holger Hiller geht noch zur Schule als er an einer Aufführung von "Wir bauen eine Stadt" mitwirkt, der berühmten Kinderoper des hessischen Universalmusikers der Moderne Paul Hindemith, der sich ein eigenes System der freien Tonalität schuf und Anhänger der sogenannten Gebrauchsmusik war, die kein Selbstzweck sein darf, sondern sich den sozialen Herausforderungen stellt. Inzwischen zum Teenager herangewachsen, macht Holger Hiller die Bekanntschaft von Paul Hindemiths musikalischer Ziehtochter Lilli Friedmann, sie überwindet den akademischen Ansatz ihres Mentors und plädiert dafür, dass auch in der Klassik improvisiert werden darf.

Sein Debüttonträger besteht aus sonst nichts als einer Kurzfassung von "Wir bauen eine Stadt". An der Einspielung beteiligt Thomas Fehlmann, später Mitbegründer von Palais Schaumburg und das nach der Band benannte Debütalbum von 1981 eröffnet mit der verblüffend an Paul Hindemith erinnernden Singleauskopplung "Wir bauen eine neue Stadt". Neben Andreas Doraus "Fred vom Jupiter" sowie "Da vorne steht 'ne Ampel" von Der Plan, verkörpert der Song jene unter dem Eindruck der Do-It-Yourself-Philosophie des Punkrock erdachte Klangwelt aus schlagerhafter Naivität und avantgardistischer Moderne, deren Naivitätskomponente im Rahmen der Neuen Deutschen Welle von den Major Companies zu Tode geritten wurde.

Nach Palais Schaumburgs Albumdebüt trennen sich ihre Wege, seine gewöhnlich als dadaistischer Nonsens empfundenen Songtexte nimmt Holger Hiller mit und kann das Ursprungskonzept der zurückgelassenen Band 1983 auf "Ein Bündel Fäulnis in der Grube" erfolgreich fortführen. Der verwendete Sampler vom Typ Emulator galt damals als ein den dystopischen Filmfantasien aus "Blade Runner" entsprungenes Teufelswerkzeug ähnlich der KI heute. Das Gerät konnte nicht nur beliebig Geräusche in Töne und Musik verwandeln sondern auch aus vorhandener Musik prägnante Melodiefragmente oder Rhythmusmuster herauslösen und zur Weiterverarbeitung bereitstellen. Ein Drumcomputerbeat, ein Melodiebogen von Kraftwerk, funky Bläserriffs von James Brown und fertig war das eigene Stück. Auf Holger Hillers nächsten beiden Soloalben übernimmt der Sampler mehr oder weniger komplett, was bei "Oben im Eck" noch funktioniert, bei "As Is" leider nicht mehr.
Bernd Gürtler/TM


Holger Hiller
"Ein Bündel Fäulnis in der Grube"
(BureauB; 24.11.23)


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Foto: Ilse Ruppert

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