|   Basement Tapes

"Paris 1919": John Cale öffnet ein Fenster zur Geschichte Europas

Nachdem bei The Velvet Underground ausgeschieden, muss John Cale überlegen, wie weiter. Eventuell als Produzent? Nico und ihr "The Marble Index" bieten eine erste Gelegenheit, später folgen die Debütalben von Iggy Pops The Stooges, Jonathan Richman und Patti Smith. Parallel erscheint mit "Paris 1919" sein zweites Solosongalbum.

Sieht ganz danach aus, als hätte John Cale frühzeitig erkannt, dass es kein Vergnügen bereiten würde, wegen seiner Produzententätigkeit auf eine bestimmte Kategorie festgelegt zu sein. Von Anfang an ist Vielfalt ein Charakterzug seines Soloschaffens und "Paris 1919" ein unmissverständlicher Fingerzeig. Das Album gilt als sein zugänglichstes, zumindest nach außen. In seiner Autobiographie "What's Welsh For Zen" spricht der Künstler selbst von einem "example of the nicest ways of saying something ugly", denn hinter den charmanten Melodien und Arrangements öffnet sich ein Fenster zur Geschichte Europas nach dem Ersten Weltkrieg. 

Die Textzeile "Nothing frightens me more/Than religion at my door" aus "Hanky Panky Nohow" verrät tiefste Skepsis gegenüber Glaubenseiferern, die aus reiner Machtgier unendliches Leid über die Menschheit bringen. "Macbeth" zitiert den Gewaltherrscher aus William Shakespeares gleichnamiger Tragödie herbei. "Half Past France" berichtet laut John Cales eigenen Worten von "soldiers already dead talking about what's happened" und erwähnt den Kriegsschauplatz Dünkirchen. 

"Child's Christmas In Wales", angelehnt an Dylan Thomas, sowie "Graham Green", beide vordergründig lesbar als Huldigungen zweier Dichteridole, lassen in der Zeile "Ten murdered oranges bled on board ship" sogar das Blut gemeuchelter Orangen fließen, beziehungsweise findet ein gewisser Enoch Powell Erwähnung; der britische Politiker unterstützt im Zweiten Weltkrieg Winston Churchills unnachgiebigen Kurs gegenüber dem Aggressor Nazideutschland, meldet sich freiwillig zum Armeedienst, sollte später jedoch durch Hassreden gegen Migranten auffallen. Der Titelsong zu "Paris 1919" enthält mit seiner Erwähnung des Versailler Vertrags den Hinweis auf einen der Hauptgründe für das Erstarken des Faschismus in Deutschland, was wiederum in den Zweiten Weltkrieg mündet. 

Vorausgegangen war "Paris 1919" ein Soloalbum unter dem Titel "The Academy In Peril", wo John Cale, ähnlich wie bei seiner Kooperation mit Terry Riley zu "Church Of Anthrax", an seine Wurzeln in der avantgardistischen Klassik anknüpft. Sowohl "Paris 1919" als auch "The Academy In Peril" liegen jetzt als Wiederveröffentlichungen vor, klanglich überarbeitet und um Bonustracks erweitert.
Bernd Gürtler/TM


John Cale: "Paris 1919" (Domino; 15.11.24)


John Cale: "The Academy In Peril" (Domino 15.11.24)


John Cale im Netz
Website | Facebook | Instagram | Twitter | YouTube | Spotify | Apple 

 

Foto: Universal/edp

neue Beiträge