Seine Stimmungsmache gilt als mitverantwortlich für die, wie sie genannt werden, Septembermassaker von 1792, bei denen ein rasender Mob mehr als eintausend Revolutionsgegner umbrachte. Ein Jahr später fiel der Brandstifter seinerseits einem Mordanschlag zum Opfer. Adelstochter Marieanne Charlotte Corday, Sympathisantin der ebenfalls unter Generalverdacht geratenen Girondisten, erstach Jean Paul Marat beim Bad in seinem hölzernen Waschzuber. Das von Jacques-Louis David geschaffene Ölgemälde des historischen Ereignisses, das Andrew Bird nachstellt, zeigt die Attentäterin bewusst nicht. Denn was war nach ihrem Meuchelmord geschehen? Sie endete auf der Guillotine, während ihr Opfer umgehend zum Märtyrer stilisiert wurde.
Könnte auf heute bezogen heißen, besser Donald Trump geht bei den nächsten Präsidentschaftswahlen als Verlierer vom Platz. Jeder andere Amtsenthebungsversuch dürfte seine Machtbasis bloß stärken.
Zu verwegen, diese Ausdeutung? Nicht bei einem Album, das mit seinen Songs denksportliche Ertüchtigung regelrecht herausfordert. Spannend beispielsweise die Frage, ob der griechische Held in "Sisyphos" sein Schicksal gemäß den Philosophen der Antike als Strafe begreift. Oder es eher mit Albert Camus hält, durch den das Rollen des Steins zum sinnstiftenden Lebensinhalt wurde. Oder sympathisiert er mehr noch mit Bob Dylan, der in seinem berühmten Rollsteinsong, angelehnt an die Bluesmythologie eines Muddy Waters, das Rollen an sich als Ambivalenz aus Vergnügen und Verhängnis beschreibt?
Am ehesten deutet die Textzeile "Let it roll, let it crash down low/There's a house down there but I lost it long ago" auf eine Geistesverwandtschaft mit Volker Braun. "Bis wir am Hang/Verharren jetzt und lassen die Last/Rollen, den Zorn, ins Tal" dichtete der ostdeutsche Poet seinerzeit. Mit "Archipelago" benennt Andrew Bird eine der schlimmsten Geißel der Menschheit überhaupt, nämlich dass sie sich nur zu gern über die Ausgrenzung und Dämonisierung anderer definiert; "We're locked in a death grip and it’s taking its toll/When our enemies are what make us whole" heißt es im Text. "Manifest" wiederum knüpft eine Verbindung zu den Einzellern vom Anfang der Evolutionsgeschichte, und so weiter und so fort. Selbstverständlich ist "My Finest Work Yet" schon deshalb sein bislang großartigstes Album, weil sämtliche Songs im Studio live eingespielt wurden, fast ohne nachträgliche Overdubs. Überwunden der naive Zugang der Vergangenheit. Jetzt kann sich der Hörer an der formvollendeten Musik erfreuen und sicher sein, dass das kein Spaß ist. Der Bursche meint das ernst!
Bernd Gürtler/TM
Andrew Bird
"My Finest Work Yet"
(Concord; 22.3.2019)
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