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Jochen Distelmeyer: Weniger ist mehr

Aus den ursprünglich anberaumten dreißig Minuten Interviewzeit wurde im Handumdrehen eine volle Stunde. Jochen Distelmeyer überlegt, was das wohl bedeuten mag. Bei seinen Songs bemüht er sich nach dem Motto weniger ist mehr um Reduktion und jetzt redet er und redet. Es gab aber eben auch manches zu besprechen. Eine Menge passiert seit seinem Debüt zu Beginn der neunziger Jahre mit Blumfeld. Die Band inzwischen aufgelöst, er umgezogen von Hamburg nach Berlin, mit "Otis" erschien sein erster Roman und im Frühsommer "Gefühlte Wahrheiten" (Sony), das nunmehr vierte Soloalbum.

Dein Bemühen um Reduzierung ist als künstlerisches Konzept gedacht und nicht dem Wunsch nach breiterer Publikumsresonanz geschuldet?
Also ein Konzept ist es nicht, für mich ergibt sich das aus dem Gleichklang des Lebens und meiner musikalischen Arbeit. Bei mir hat jede ästhetische Entscheidung, ob bewusst oder unbewusst getroffen, eine lebenstechnische, ethische Dimension. Wenn alle glauben, ganz laut sein zu müssen, fand ich es sinnvoll, durch leisere Klänge den Raum anders zu füllen, mit einer anderen Entschiedenheit, einem feineren Pinselstrich.

Blumfeld sind eher das Gegenteil davon gewesen. Zumindest bei den ersten beiden Alben "Ich-Maschine" und "L'état et moi" wurde die Sampletechnik des HipHop auf den Rock übertragen und aus einer Vielzahl von Referenzen Songs ungeheurer Informationsdichte erschaffen, zusätzlich verstärkt in ihrer Dringlichkeit durch die bei Sonic Youth abgelauschten Gitarren und deinen Sprechgesang. Etwas in der Art wäre nicht mehr machbar.
Doch, viele, auch musikalisch am HipHop orientierte Musiker und Musikerinnen führen das fort. Als Blumfeld dachten wir, dass uns die Aneignung des HipHop auf musikalischer Ebene nicht zusteht, wir waren anders sozialisiert. Trotzdem war HipHop ein prägender Einfluss. Dort erkannte ich wieder, was mich an Popmusik interessiert, die direkte Artikulation, davon zu erzählen, wie sich das Leben anfühlt in all seinen Schichtungen. Das fand Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre gar nicht mehr statt. Westdeutschland bewegte sich zwischen Schlager, Deutschrock und Fun Punk. Um zu einer ureigenen Form des Singens und Sprechens zu gelangen, orientierte ich mich an den Großen des HipHop, die mich an Franz Joseph Degenhardt oder Bob Dylan erinnerten, und zur Verarbeitung von deren Einflüssen, übertrug ich die Sampletechnik des HipHop auf meine Songtexte.

Wirklich nur auf die Songtexte?
Ja, bei Blumfeld haben wir keine musikalischen Elemente, keine Breakbeats, keine Gitarrenlicks gesampelt. Das machten andere, was ich auch cool fand, aber wir wollten das nicht. Uns ging es um eine andere Form des Umgangs mit Einflüssen. Aber ab dem dritten Blumfeld-Album "Old Nobody" wusste ich, dass ich das jetzt kann und versuchte mehr auf den Punkt zu kommen, mit Songs wie "Tausend Tränen tief".

Die heftigen Rockgitarren bei Blumfeld sind aber an Sonic Youth angelehnt gewesen?
Für mich nicht. Eike (Bohlken, Bass) und André (Rattay, Schlagzeug) würden jetzt komisch gucken und sagen, wieso, ist doch klar. Die beiden hatten durch ihre Mitgliedschaft bei Der Schwarze Kanal mehr mit Sonic Youth zu tun. Meine Vorstellung von obertonreichen feedbackigen Noisegitarren kam von den Wipers, einer für mich bis heute prägende Band. Das ist ein qualitativer Unterschied.

Welcher?
Greg Sage von den Wipers spielte auf den ersten beiden Alben mindestens ein normales Tuning. Aber die Akkorde klangen wie Open Tuning, ähnlich wie bei Joni Mitchell, Bert Jansch oder britischen Folksachen, die auf eine andere Art obertonreich gewesen sind, in fast transzendenter Anmutung nach oben offen und nicht festgelegt auf männlich/weiblich, sprich Dur/Moll-Akkorde. Diese sinfonische Qualität, wie sie die Wipers als Trio mit Bass, Gitarre und Schlagzeug entwickelten, das hat mich immer sehr berührt. Dort paarte sich die Energie des Punk, das Ungestüme, mit einer soulmusikhaften Tiefe des Ausdrucks, den ich bei Sonic Youth in dem Maße nicht sah.

Als Blumfeld auf der Bildfläche erschienen, war die Informationsdichte der Songs gerechtfertigt. Rockmusik funktionierte damals noch als Kommunikationsmedium, brachte Menschen zusammen, ließ sie über ihre Ansichten und Meinungen debattieren. Etwas, das inzwischen an soziale Medien abgegeben wurde.
Ich sehe den Punkt, kann aber nicht ganz zustimmen. Ich würde es auch nicht beschränken auf Rockmusik sondern von Liedkultur generell sprechen, einer jahrhundertealten Ausdrucksform des persönlichen Lebens von Sängern und Sängerinnen. Das hatte natürlich eine sozialverbindende Funktion, die wir heute fälschlicherweise den sozialen Medien zuschreiben. Dabei handelt es sich doch eher um ein babylonisches Stimmengewirr, weil die Leute nicht wirklich verantworten müssen, was sie sagen, weder durch körperliches Erscheinen noch Klarnamen. Eine Qualität, die Rockmusik vielleicht wirklich eingebüßt hat, ist der Glaube an das Heilende der Musik. So eine schamanistische Tradition wie man sie bei den Doors, bei Patti Smith, Sonic Youth, den Wipers oder sogar Depeche Mode findet. Und nicht zuletzt auch eine Band wie Coldplay steht für mich in dieser Tradition des Heilenden. Dass das zurückgegangen ist, stimmt. Es lässt sich vielleicht sogar ein genereller Vertrauensverlust in die Künste verstehen, weswegen viele vermehrt in die Welt der Computerspiele und sozialen Medien abtauchen.

Sind dir jemals Unterschiede in der ostdeutschen und westdeutschen Rezeption von Blumfeld ausgefallen?
Wie meinst du das.

In Ostdeutschland wurde Rockmusik in anderen Zusammenhängen gehört. Ein Song wie Sillys "Schlohweißer Tag" mit Textzeilen wie "Ich falte Vögel aus Zigarettenpapier/Im Kühlschrank brennt Licht, wo bin ich denn hier", war direkt aus dem Alltag gegriffen und sofort nachvollziehbar. Niemand musste wissen, ob das Falten von Vögeln aus Zigarettenpapier einer bestimmten Kulturtradition folgt oder die Innenbeleuchtung des Kühlschranks bereits in dieser oder jener literarischen Vorlage verwendet wurde. Blumfelds "Ghettowelt" beispielsweise offenbarte sich in Gänze nur demjenigen, der erkannte, dass die Textzeile "Ein Lied mehr ist eine Tür, ich frag' mich bloß wofür, denn das, was dahinter liegt, scheint keinen Deut besser als das hier" auf die Doors hindeutet und deren Bandnamensentlehnung von Aldous Huxleys "The Doors Of Perception". Oder das Cover zu "L’état et moi", das bei Elvis Presleys Best-Of-Kopplung "50.000.000 Elvis Fans Can't Be Wrong" abgeschaut war! Ein solches Detailwissen ist in Ostdeutschland gar nicht vorhanden gewesen, selbst in gewöhnlich gut informierten Kreisen nicht.
Ich verstehe, was du meinst, habe es aber eher so wahrgenommen, dass durch das Fehlen eines Narrativknowhows, bestimmter popkultureller Bezüge und Doktrin, wie Popmusik gehört und verstanden werden sollte, die Rezeption viel direkter und kompetenter war. Die Leute sagten sich schlicht, ah, gefällt mir, anstatt sich zu fragen, oh, was muss ich erst verstehen, um das cool finden zu dürfen. Das kann auch Spaß machen, ich bin damit noch aufgewachsen. Es gab diverse Kanons, in die man von denjenigen, die mehr wussten, eingeführt wurde und beigebracht bekam, nee, Sex Pistols sind geiler als UK Subs oder so. Aber diese Rezeptionsmechanismen machte es nicht unbedingt einfacher, einen direkten, persönlichen Ausdruck zu finden, das Ungeschützte, das sich sagt, mir doch egal was ihr denkt. Ich muss erzählen wie es mir geht, auch wenn es unbeholfen, unsicher, uncool wirkt. Darum geht es doch in der Musik. Mein neues Soloalbum ist ein weiterer Schritt, einfacher zu singen und zu erzählen.

Apropos, das Albumcover zu "Gefühlte Wahrheiten" ist ein Klappcover und zeigt ein Triptychon von Hieronymus Bosch mit dem Titel "Garten der Lüste". Innen im Cover abgebildet die farbenfrohe Innenansicht des Triptychons, außen dessen geschlossene Außenansicht mit der düsteren Darstellung vom dritten Tag der Schöpfungsgeschichte, die Erde gemalt als Scheibe. Ist das ein Sinnbild für die gefühlten Wahrheiten gestern und heute?
Keine Sicht auf die Welt ist doch frei von gefühlten Wahrheiten. Das, was als Flat-Earth-Theorie gilt, war auch zu Zeiten von Hieronymus Bosch noch wissenschaftliche Mehrheitsmeinung. Obwohl es auch damals schon gebildete Stände gab, die von der Erde als einer Kugel ausgingen. Der Gedanke existiert seit Platon. Erstaunlich, wie sich dieses abergläubische, unwissenschaftliche, evidenzlose Narrativ der flachen Erde so lange halten können.

Eine wunderbare Anspielung auf die Gegenwart eben.
Ja, auch. Aber wenn man das Cover aufklappt und den ganzen Reichtum des Gartens der Lüste sieht, ist es für mich vor allem ein perfektes Sinnbild für das, was wir mit dem Album versucht haben, nämlich den inneren Empfindungsreichtum, den Reichtum des Lebens in all seinen Schattierungen darzustellen. Sowohl das Schöne, das Freudvolle als auch das Sorgenvolle und Verheerende, das ebenso Teil dieses Reichtums ist. Verletzlichkeit, Hilfsbedürftigkeit, Schmerz wegzusperren, nicht wahrhaben zu wollen, ist ein am Ende armseliger Vorgang, durch den das Leben entlebendigt wird. Es gehört leider dazu, dass man Verletzungen erlebt, krank wird, schwach ist, Hilfe braucht, nicht mehr der starke Supermann sein kann, sondern auf andere angewiesen ist, man aber auch anderen Hilfe geben kann. Gerade jetzt, wo viel über Solidarität und Empathie gesprochen wird, aber vor den Toren Europas in einem für siebentausend Menschen vorgesehenen Lager auf Lesbos fünfundzwanzigtausend Menschen ausgegrenzt und nicht reingelassen werden, kommt mir das vor wie die Projektion der eigenen Verletzlichkeit auf andere, denen man keine Hilfe zukommen lassen will. Wie in einer Art Selbsthass, aus Angst vor den eigenen Gefühlen.
Bernd Gürtler SAX 09/22 


Jochen Distelmeyer
"Gefühlte Wahrheiten"
(Four; 1.7.2022)


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Foto: Sven Sindt
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